Flieht, solange ihr könnt!

Als Profisportlerin ist es Andrea Petkovic gewohnt, ihren Körper der Selbstoptimierung zu unterwerfen. Doch neuerdings scheinen immer mehr Nicht-Sportler besessen davon, möglichst gesund und spaßfrei zu leben. Warum nur?

Andrea Petkovic war glutenfrei, laktosefrei, zuckerfrei. Unter anderem.

Foto: privat

Wenn ich morgens meine Augen aufschlage und an die Decke gucke, weil ich wie mal wieder auf dem Rücken geschlafen habe wie dereinst im Grab, frage ich mich als erstes, wie es mir geht. Das mag sich banal anhören oder selbstverliebt, aber von dieser Frage hängt mein gesamter weiterer Tagesablauf ab. Ich gehe einmal meine innere Checkliste durch: An welchen und wie vielen Stellen in meinem Körper habe ich Schmerzen? Wie stark sind sie? Kann ich trainieren wie geplant? Kann ich das Match spielen?

Wenn Ärzte sagen, dass »Sport« gesund ist, meinen sie damit: Drei bis viel Mal pro Woche Herz und Kreislauf in Schwung bringen und die Muskeln kitzeln, um Rückenschmerzen zu vermeiden, nicht zu dick zu werden und ein paar Glückshormone auszuschütten. Sie meinen damit definitiv nicht, vier bis fünf Stunden am Tag auf einem Hartplatz gelben Bällen hinterher zu rennen, als würde das eigene Leben davon abhängen.

Ich erzähle Ihnen nichts Neues, wenn ich sage, dass Profisport nicht unbedingt gesund ist, aber das soll hier auch gar nicht das Thema sein. Ich will damit vor allem deutlich machen, dass ich ein besonderes Verhältnis zu meinem Körper habe: Er ist das Werkzeug, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Ich brauche ihn, um arbeiten zu können, wie ein Buchhalter den Computer oder ein Bäcker das Mehl. Deswegen versuche ich, gut zu ihm zu sein, ihn zu pflegen und zu verstehen.

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Und deshalb sind zu der morgendlichen Frage nach meinem Befinden mittlerweile viele weitere Fragen hinzugekommen: Wie fühle ich mich, wenn ich Brot vor dem Training esse? Wie fühle ich mich, wenn ich Obst nach dem Training esse? Vertrage ich Laktose? Vertrage ich Gluten? Was ist Gluten überhaupt und warum kontrolliert es mein Leben? Sollte ich Fleisch essen und wenn ja, wie viel? Ich war bereits glutenfrei, laktosefrei, zuckerfrei, Veganerin, Vegetarierin, Pescetarierin und ganz viele unterschiedliche Kombinationen daraus.

Beim Essen hört es natürlich nicht auf, im Gegenteil, die Fragerei geht ständig weiter: Hat mir der längere Lauf gut getan oder macht er mich langsam? Ist Dehnen direkt nach dem Training besser oder lieber abends vor dem Schlafengehen? Es ist die andauernde Selbstbe- und Hinterfragung, ein minütliches Hineinhorchen, nein, ein Aushorchen meines Körpers.

»In letzter Zeit stelle ich immer häufiger fest, dass scheinbar alle Menschen um mich herum zu Profisportlern mutiert sind«

Jahrelang dachte ich, das gehöre zu meinem Jobprofil als Profisportlerin; der Bäcker oder Buchhalter wird sich auch Fragen stellen, andere halt. Doch in letzter Zeit stelle ich immer häufiger fest, dass scheinbar alle Menschen um mich herum zu Profisportlern mutiert sind und sich die körperliche Selbstoptimierung auf die Stirn geschrieben haben. Die behaupten, ihre geschwollenen Augen kämen von den 200 Gramm Nudeln, die sie zu Abend gegessen haben - dabei haben sie bis 3 Uhr nachts Netflix geschaut.

Einerseits bin ich beeindruckt, andererseits möchte ich diesen Menschen von hier, wo ich bin, von der dunklen Seite aus zuschreien: FLIEHT, SOLANGE IHR NOCH KÖNNT! Sicher, man lernt wahnsinnig viel über den eigenen Körper, man entdeckt oft Seiten an sich, die man noch nicht kannte, und kann schneller entgegensteuern, wenn etwas in Schieflage gerät. Das ist toll. Aber: Man vergisst leider auch, komplett im Hier und Jetzt zu sein, sich auf das Leben einzulassen mit all seinen Überraschungen, Drehungen und Wendungen. Weil man viel zu viel tun und kontrollieren will. Selbstoptimierung ist aktiv, Selbstentwicklung muss passiv geschehen, zumindest zum Teil.

Kennen Sie den Film »Ex Machina«? Es geht mehr oder weniger um einen Wissenschaftler, der weiblich aussehende Humanoide mit künstlicher Intelligenz ausstattet und ein Experiment mit ihnen und einem Programmierer durchführt. Am Ende entwickeln sich die Roboter schneller als gedacht, drehen den Spieß um und entledigen sich der Menschen, um die Weltherrschaft zu übernehmen. Das ist jetzt geraten, weil der Film vorher aufhört, aber die Implikation ist die Gleiche: Der Mensch an sich hat Fehler, deswegen wird er ausgenutzt und ausgetrickst, während der Roboter in seiner kühlen Intelligenz übernimmt.

Und darin liegt mein Problem mit der obsessiven Selbstoptimierung: Je perfekter wir werden (und wir werden sehr nah an die Perfektion kommen, denn der Mensch ist ein außergewöhnliches Tier), desto weiter entfernen wir uns von der Essenz der Menschlichkeit. Den Feinheiten der Menschen, die eben nicht immer streng rational handeln sondern sich von ihren Emotionen reinreden lassen. Die bis 3 Uhr nachts Netflix gucken, obwohl sie wissen, dass sie am nächsten Tag geschwollene Augen haben werden. Die bis 5 Uhr morgens Bier trinken und tanzen, in Bars rumhängen und sich in andere Menschen verlieben, die Ozeane weit entfernt leben. Sachen, die vielleicht keinen Sinn machen, aber sehr viel Spaß.

Deshalb noch einmal an alle, die sich all die schönen Dinge verkneifen, obwohl sie sich diese eigentlich erlauben dürften: Rettet euch, solange ihr könnt!