Brutale Zärtlichkeit

Auf St. Pauli bekommen Nachtschwärmer einen Mojito zum Mitnehmen, der auch Sir Francis Drake geschmeckt hätte. So stark wie ein Schlag ins Gesicht – und so süß wie ein Streicheln der Wange.

Foto: Maurizio Di Iorio

Meine Schule des Lebens war ein Imbiss. An der Tafel standen keine Rechenaufgaben, sondern die Preise für Riesencurrywurst (4,80 Euro), Schaschlikspieße (5 Euro) und Gemüsefrikadellen (4 Euro, eigene Herstellung). Die Schüler waren angetrunkene Nachtschwärmer auf der Suche nach einem alkohol­aufsaugenden Snack, und die Lehrerin war eine Frau mit kurzen, stahlgrauen Haaren und Mundwinkeln, die von der Erde magisch angezogen wurden. Sie sah aus, als konnte sie eine Horde HSV-Hooligans nur mit ihrem Blick zum Winseln bringen. Manche Mitarbeiter nannten sie »Mutti«.

Sie hatte auch etwas von einer Mutti, irgendwie. Streng, aber gerecht wachte sie hinter der Theke und wies drängelnde, lärmende und/oder besoffene Gäste mit einem Stimmorgan zurecht, das jedes Martinshorn vor Neid verstummen ließ. Ich erinnere mich an unsere erste Begegnung. Es war nach der Party bei Sarah, und wir waren zu viert, hungrig und völlig zertanzt. Im Radio lief Hamburg Zwei, die Hits der Achtziger, neben dem Eingang hing ein Trikot voller Unterschriften, der eingerahmte Beweis des Wunders, als St. Pauli die Bayern im Februar 2002 mit 2:1 weggejodelt hatte. Morgens saßen hier immer ein paar alte Kiez-Ikonen, die Volker oder Peter hießen, die Finger voller Silberringe, aber nachts waren die verschwunden, und es wimmelte von jungen Leuten. Überall das Geräusch brutzelnder Würstchen, brodelnden Frittierfetts, klappernder Biergläser, und zu den Pommes gab es eine gottlose Menge Majo. Es war der Traum von einem Imbiss.

Samstags gab es zwei Mojitos zum Preis von einem, ein Spottpreis von 6,98 Euro. Ich bestellte zwei, und eine Portion Pommes dazu. Mutti ging zur Bar, zog einen Plastikbecher vom Stapel, rupfte ein paar Minzblätter ab, Limettensaft, Rum, Zucker – und mörserte alles kurz und klein. Im Prinzip waren es die gleichen Zutaten, die der Freibeuter Sir Francis Drake vor knapp 450 Jahren nutzte. Von der Karibik bis nach Westkanada hatte er spanische Galeonen geplündert und peruanisches Gold geraubt. Das viele Freibeutern war ihm irgendwann auf den Magen gegangen, also mixte er sich ein Heilgetränk aus Zucker, frischer Minze, Limetten und Aguardiente de Cana, einem Zuckerrohrschnaps und Vorgänger des Rums, und konnte so weiterplündern. So geht jedenfalls die Legende.

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Da muss man halt durch. Und ehe man sich’s versieht, ist der Becher leer

Ich nahm einen Schluck. Und verzog das Gesicht. Er war stark, sehr stark, und süß, sehr süß. Er schmeckte, als würde man erst deine Wange streicheln und dir dann eine reinzimmern. Aus irgendeinem Grund willst du aber mehr von der Süße, auch wenn sie eine Bitterkeit in sich trägt. Man könnte sagen, dieser Mojito schmeckte wie das Leben selbst: Da muss man halt durch. Und ehe man sich’s versieht, ist der Becher leer.

»Puh, der ist echt stark. Wie macht ihr die?«, prustete ich.

»Na, wie wohl?«, sagte Mutti trocken. »Ordentlich halt.«

Es gibt nicht mehr viele Menschen mit dieser Einstellung, dachte ich.

Ich landete noch viele Male in diesem Imbiss. Morgens und abends, allein und mit Freunden, und irgendwann auch mit Anna. Wir aßen Veggie-Burger und Nicht-Veggie-Burger und rissen Witze über den Comedian mit den schlechten Witzen, den wir uns zuvor angeguckt hatten. Sie klaute meine Pommes, so wie Mädchen es immer tun, und hatte dabei diesen Blick in den Augen, den Sir Francis Drake vermutlich auch hatte, als er peruanisches Gold sah.

Wir nahmen dann noch einen Drink für den Heimweg. An der Kreuzung hielten wir inne, und mein Herz schlug so laut, ich weiß nicht, ob es am Mojito lag oder an ihr. Sie schmeckte nach Zigaretten und Zucker und eiskalter Minze, nach geplündertem Rum und salzigen Pommes, erst ein Schlag ins Gesicht, dann ein Streicheln der Wange, ein bisschen wie das Abenteuer also.