Urlaubslektüre

Bei der Wahl der Urlaubslektüre gilt der Grundsatz, dass sich die Bücher desto mehr lohnen, je weiter sich der erzählte Stoff zeitlich und räumlich von den Umständen des Lesens entfernt. Unter der Sonne Südfrankreichs werden die Bilder der schneebedeckten Felder in Anna Karenina besonders eindringlich. Anfang des 21. Jahrhunderts, am Meer in Italien, einen Roman zu lesen, der Anfang des 21. Jahrhunderts am Meer in Italien spielt, kann die Fantasie dagegen augenblicklich zum Erliegen bringen. Gerade weil sich die Einbildungskraft abgrenzen will von der Umgebung, gibt es jedoch eine Art der Urlaubslektüre, die vielleicht beglückender ist als jeder Roman: die vertraute Tageszeitung, die am Ferienort nicht wie sonst Morgen für Morgen im Briefkasten steckt, sondern, mit einer Verzögerung von Tagen, auf gut Glück entdeckt werden muss.Im Urlaub löst sich die Zeitung, was sonst undenkbar wäre, vom Datum ihrer Veröffentlichung ab. Zu Hause ist das Verhältnis von Lebens- und Erscheinungsrhythmus immer deckungsgleich; dass man an jedem Morgen die aktuelle Zeitung vom Tage liest, versteht sich von selbst. Wer sich doch einmal vertut und aus Versehen kurzzeitig zu der Ausgabe vom Vortag greift, will die Buchstaben nach Entdeckung des Irrtums am liebsten wieder ausspucken – als wären sie über Nacht verdorben wie stehen gelassene Milch. Wie anders in den Ferien, wenn man einen Spaziergang quer durch den Ort in Kauf nimmt, um auf ein zwei oder drei Tage altes Exemplar zu stoßen: In der Entfernung von zu Hause, im ungestörten Verfließen der Stunden am Strand oder auf der Hotelterrasse verliert die Ausgabe ihr Verfallsdatum. Der Unterschied ist bereits an der veränderten materiellen Beschaffenheit der Zeitung erkennbar. Am heimischen Frühstückstisch sind die Fingerkuppen dunkel nach der Lektüre der noch leicht glänzenden Blätter. Aus der Druckerschwärze spricht die Frische, die unmittelbare Aktualität der Zeitung; es ist die Essenz des Tages, die von ihr abgesondert wird und auf den Leser übergeht. Im abgedunkelten Zeitschriftenladen in einem süditalienischen Dorf dagegen, am Bahnhofskiosk einer osteuropäischen Stadt, bei einem Straßenhändler in der Sonne von Kalifornien weist allein die Konsistenz des aufgestöberten Exemplars auf seinen ungewöhnlichen Status. Niemals wäre diese Zeitung noch zu Spuren von Druckerschwärze imstande; das bleiche Papier, die hellere Schrift, ausgemergelt vom langen Transport, zeugen bereits vom beträchtlichen Abstand zum Tagesgeschehen. Mit dem Schwinden der Aktualität steigt der Preis. Die Ausgabe kostet so viel wie einer der bunten Ta-schenbuchromane auf den Drehständern daneben, und das ist folgerichtig, erscheint doch auch die Tageszeitung im Urlaub eher als ein erzählendes, beinahe fiktionales Medium.Aus dieser Fremdheit heraus resultiert schließlich eine neue Reihenfolge, in der die Artikel gelesen werden. Am Frühstückstisch oder in der U-Bahn auf dem Weg ins Büro hat jeder seinen lieb gewonnenen Parcours, der Morgen für Morgen strikt beibehalten wird. Einer, der von jeher zuerst den Sportteil liest, danach das Gesellschaftsressort auf der Rückseite der ersten Lage, anschließend zu den gro-ßen Reportagen auf den Anfangsseiten übergeht: Im Urlaub kann es geschehen, dass er diese jahrelang eingespielte Ordnung aufgibt, plötzlich Interesse für die stets überblätterten Wirtschaftsseiten aufbringt, mit großer Konzentration die vermischten Annoncen oder die Kurznachrichten des Regionalteils durchgeht. Gerade die verborgenen Winkel inmitten der Fülle des Geschriebenen entfalten nun, da die Zeitung nicht mehr die ständige Begleiterin des Tages ist, ihren Reiz. Im Urlaub kann sogar der Ehrgeiz aufkommen, ein Exemplar der Tageszeitung tatsächlich auszulesen: eine Leistung, die eigentlich nur Entführungsopfern vorbehalten ist, die in ihrem Kellerverlies nichts als eine einzige alte Ausgabe neben der Matratze vorfanden.