»Film ohne körperliche Nähe wäre eine Katastrophe!«

Auch an Filmsets gelten in Zeiten von Corona Hygienevorschriften und 1,50 Meter Sicherheitsabstand. Wie erzählt man unter diesen Bedingungen Geschichten? Wie vermittelt man Emotionen? Die Drehbuchautorin Annette Hess hat eine Serie geschrieben, in der sich die Darsteller fast nicht begegnen.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Frau Hess, geht es Ihnen auch so, dass Sie richtig erschrecken, wenn Sie im Fernsehen Menschenmengen sehen oder Fremde, die sich nahekommen?
Annette Hess: Ja, und ich bin erstaunt, wie schnell das ging. Schon zwei Wochen nach Beginn der Kontaktbeschränkungen fing das bei mir an. Wenn sich Leute im Fernsehen einen Kuss geben oder bei der Begrüßung umarmen – um Gottes Willen! Es ist wie mit dem Rauchen im Fernsehen. Neulich habe ich einen Film aus den neunziger Jahren gesehen, da ging jemand rauchend in eine Bank. Heute würde man bei dem Anblick ja ohnmächtig werden!

Sie sind Drehbuchautorin. Inwieweit verändert Corona Ihren Alltag?
Schreiben ist ja wie Quarantäne – man sitzt zu Hause und sieht niemanden, das kann ich also gut. Aber die Treffen mit Kolleg*innen und Produzent*innen, der menschliche Austausch, zusammen an einem Tisch zu sitzen, das fehlt mir wahnsinnig. Im kreativen Findungsprozess muss man sich riechen, die Nähe und Wärme des anderen spüren, sich in die Augen sehen, um richtig konstruktiv zu sein.

Trotzdem haben Sie mit Ausgebremst gerade eine Serie geschrieben, die auf die aktuelle Situation reagiert.
Ja, man muss mit der Situation professionell umgehen. Dabei waren meine Co-Autoren Ralf Husmann und Sebastian Colley und ich uns sofort einig, dass wir Begriffe wie Corona oder Virus in der Serie auf keinen Fall vorkommen lassen wollen. Das kann keiner mehr hören, und die Lage ändert sich ständig. Klopapierwitze, vor vier Wochen noch der Hit, sind zum Beispiel jetzt ein alter Hut.

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Normalerweise schreibt man kein Drehbuch innerhalb weniger Wochen, oder?
Nein. Aber diesmal musste alles sehr schnell gehen, darum haben wir kein ausgeschriebenes Drehbuch vorgelegt. Es enthält zwar Dialoge, aber mehr als Improvisationsgrundlage für die Schauspieler*innen. Und wir haben uns dabei penibel an die offiziellen Bestimmungen, also Hygiene- und Abstandsvorschriften, gehalten. Mehr noch: Alle Schauspieler*innen waren bei sich zu Hause und haben über den Bildschirm miteinander gesprochen, oder wir haben ihnen Räume besorgt.

Die Darsteller begegnen sich also gar nicht?
Von Anfang an war klar, dass die Schauspieler*innen jeweils von zu Hause aus agieren sollten. In einer Episode brauchten wir allerdings ein Paar. Dass Sabin Tambrea und Alice Dwyer zusammenwohnen, war die ideale Voraussetzung – neben der Tatsache, dass beide hervorragende Künstler sind. In einer anderen Episode agieren Maximilian Mundt, Leonie Wesselow und Anna-Lena Schwing als Punkband – sie wohnen teilweise zusammen und sind eng befreundet. Außerdem gibt es eine Szene, in der sich zwei Schauspieler begegnen, die nicht bereits Kontaktpersonen waren. Doch das ist eine Trennungsszene. Da passt der körperliche Abstand natürlich sehr gut. Aus den Drehbedingungen hat sich dann die Idee einer Online-Seelsorge ergeben: Menschen mit Problemen rufen eine vermeintliche Seelsorgerin an. Da gibt es allerdings eine Nummernverwechslung. Also rufen alle in einer Fahrschule an. Die Fahrschule haben wir in München gefunden, dort hat dann Maria Furtwängler mit einem ganz kleinen Team gedreht, das auf alle Maßnahmen geachtet hat. Regie hat Lutz Heineking von Köln aus geführt. Das hat erstaunlich gut funktioniert. Ich denke, beim Film sind wir es grundsätzlich gewohnt, uns schnell auf ungewöhnliche Bedingungen einzustellen, Kompromisse zu machen, Lösungen zu finden – das zeigt sich jetzt.

»So eine Krise bringt ja das Gute und das Abgründige in den Menschen gleichermaßen zum Vorschein«

In der Serie geht es um Beate, die von ihrem Mann verlassen wird, mit dem sie eine Fahrschule betreibt, ihren Führerschein verliert sie auch noch. Wie erzählt man Emotionen ohne Nähe?
Beate hat selbst ein großes Problem – und wird durch ein Versehen von Menschen mit ebenso großen Problemen angerufen. Die Hilfesuchenden erzählen von ihren Gefühlen und Sorgen, zeigen also ihre Emotionen verbal. Das Ganze ist im Übrigen auch sehr komisch. Eine größere Herausforderung ergab sich bei meiner Serie Ku’damm 63, bei der ich als Creative Producer fungiere: Da waren wir mitten in den Dreharbeiten, als wir wegen Corona abbrechen mussten. Glücklicherweise war schon einiges abgedreht, aber es mussten auch Szenen von den Autoren umgeschrieben werden, der Unterricht in der Tanzschule zum Beispiel.

Wie haben Sie das gelöst?
Da stehen sich die Darsteller jetzt in einer Reihe gegenüber, tanzen aber nicht miteinander.

Wie haben Sie die Drehbücher noch angepasst?
Derzeit sind keine Außendrehs mehr erlaubt, Szenen auf der Straße zum Beispiel, vor Geschäften. Alles muss im Studio gedreht werden. Auch Beziehungs- und Kussszenen wird es vorerst nicht geben. Es ist schon ein massiver Eingriff in die Drehbücher. Wir sind gezwungen, andere, besondere Situationen zu finden, um unter diesen Voraussetzungen Emotionen zu erzählen. Man kann die Darsteller nicht einfach bloß weiter auseinanderstellen.

Wenn die Abstandsregeln noch lange gelten: Werden Film und Fernsehen demnächst weniger körperlich?
Ich hoffe nicht. Film ohne körperliche Nähe wäre eine Katastrophe! Nähe und Distanz sind die Mittel, mit denen wir erzählen, da würde ganz viel wegfallen. Als würde man Musik machen und nur noch eine Oktave zur Verfügung haben. Sie können sich vorstellen, was dabei für eingeschränkte, sich wiederholende Lieder herauskommen würden. Es geht, aber es ist eine wahnsinnige Beschränkung. Obwohl es auch interessante Gegenbeispiele gibt.

Woran denken Sie?
Ich bin großer Fan des Drehbuchautors und Regisseurs Ingmar Bergman. In Schweden habe ich mal eine Theaterinszenierung von ihm gesehen: Peer Gynt von Henrik Ibsen. Da gibt es das Liebespaar, Peer und Solvejg. Solvejg wartet ihr Leben lang auf ihn, und als sie sich am Ende wiedersehen, war es Bergman wichtig, dass sie dabei auf der Bühne möglichst weit auseinanderstehen. Er war überzeugt, dass dadurch ihre Liebe und die Wiedersehensfreude mehr Kraft haben würden, als wenn sie aufeinander zu rennen und sich abküssen. Genauso war es auch. Ich habe aber schon die große Hoffnung, dass sich das mit dem Abstandhalten wieder erledigen wird. Und es gibt ja die Möglichkeit, als Filmteam vorher in Quarantäne zu gehen.

Wie beeinflusst die Krise Ihre Arbeit noch?
Ich merke, wie sich mein Blick auf Stoffe verändert. Die Projekte, an denen ich gearbeitet habe, als Corona losging, wurden plötzlich sehr irrelevant, und ich frage mich zum Beispiel: Warum soll man jetzt was über die vierziger Jahre erzählen? Warum eine Vampirserie?

Welche neuen Fragen stellen Sie sich noch im Moment?
Wollen die Leute mehr Comedy, wollen sie einfach unterhalten werden? Brauchen wir mehr eskapistische Inga-Lindström-Schweden-Filme? Womit können wir die Zuschaue*innen jetzt bewegen? Ich habe neulich noch einmal Wer hat Angst vor Virginia Woolf? mit Elizabeth Taylor und Richard Burton gesehen, der passt unglaublich gut in die jetzige Zeit, weil es um Menschen geht, die sehr eng aufeinander hocken und sich zerfleischen, aber auch nicht voneinander loskönnen. So ein Film bekommt in der aktuellen Situation plötzlich eine neue Ebene.

Finden Sie in der Pandemie auch Inspiration?
Grundsätzlich bin ich als Autorin immer interessiert an dramatischen Situationen und fasziniert von den positiven und negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft. So eine Krise bringt ja das Gute und das Abgründige in den Menschen gleichermaßen zum Vorschein. Corona wirkt wie ein Vergrößerungsglas. Deshalb versuche ich aktuell, alle Aspekte dieser Krise zu sehen und aufzunehmen.

Was macht Ihnen Hoffnung?
Bei Ausgebremst haben wir alle auf unsere Gagen verzichtet, die Schauspieler*innen, die Autor*innen, der Regisseur. Die Werbeeinnahmen gehen direkt an die KunstNothilfe. Ich kenne viele Kolleg*innen, Künstler*innen, Kreative, die finanzielle Probleme bekommen, gerade Musiker*innen oder Kompars*innen, die auf das Komparsengeld angewiesen sind, das fällt jetzt alles weg, weil es keine Massenszenen mehr gibt. Ich arbeite an einem Kudamm-Musical, das sollte eigentlich im Dezember Premiere haben. Wir waren mitten in der Vorbereitung, und jetzt wissen viele der Beteiligten nicht, wie es beruflich weitergeht. Da fühlt es sich gut an, wenn wir mit unserer Produktion ein bisschen Unterstützung leisten können.

Annette Hess schrieb unter anderem den ARD-Zweiteiler »Die Frau vom Checkpoint Charlie« mit Veronica Ferres, die Serien »Weissensee«, »Ku’damm 56« und »59« und zuletzt »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«. 2018 ist ihr Romandebüt »Deutsches Hau«s (Ullstein) erschienen. »Ausgebrems«t läuft ab 14. Juni auf den TNT-Sendern (z.B über Sky) und ab 9. Juni auf den Social-Media-Kanälen von TNT. (z.B. https://www.facebook.com/TNTComedy)