Ausweitung der Intimzone

Eine Frau schenkt ihrem Mann Aktbilder von sich selbst. Kurz darauf stellt die Schwägerin die Bilder nach – für ihren eigenen Mann. Darf man sich darüber aufregen?

»Zum 40. Geburtstag habe ich meinem Mann fürs Schlafzimmer zwei stilvolle, nicht pornografische Aktfotos von mir geschenkt, die er seinem Bruder und dessen Frau zeigte. Die fanden sie so toll, dass sie nun, ohne mich zu fragen, das gleiche Bild im selben Raum nachstellen. Ich finde das unmöglich, die anderen verstehen die Aufregung nicht. Was meinen Sie?« Maria S., München

Ihr Schwager und seine Frau haben etwas nachgemacht. Das ist nicht toll, aber auch nicht so ungewöhnlich. Die beiden haben es aber derart eins zu eins umgesetzt, dass man sagen könnte, sie haben die Bilder reproduziert. Dieses Stichwort lässt aufhorchen. Man denkt, auch wenn es keine Reproduktionen im technischen Sinne sind und Ihre Aktfotos vermutlich auch keine echten Werke der Kunst, an einen bekannten Text: Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

Darin stellt Benjamin zunächst fest, dass Kunstwerke immer reproduzierbar waren und auch reproduziert wurden, von Schülern, von Meistern, oder um Gewinn zu erzielen: »Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden.« Diese Reproduktionen hätten aber, so Benjamin, eines niemals: das einmalige Dasein des Kunstwerks. Zu dem gehörten die Veränderungen der physischen Struktur im Laufe der Zeit und die wechselnden Besitzverhältnisse, bei Ihnen wäre das, dass Sie die Bilder Ihrem Mann geschenkt haben. Interessanterweise ergänzt Benjamin in einer Fußnote: Das umfasse noch mehr, bei der Mona Lisa zum Beispiel die Art und Zahl der Kopien, die im Laufe der Jahrhunderte von ihr gemacht worden sind.

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Das ist der Punkt. Zwar sind – ohne Ihnen nahetreten zu wollen – Ihre Aktbilder vermutlich nicht ganz mit der Mona Lisa zu vergleichen, aber es sind Unikate mit ausreichend Strahlkraft, um nachgeahmt zu werden. Deshalb gehört nun die Tatsache, dass, wie und von wem sie nachgeahmt wurden, zum »einmaligen Dasein« dieser Bilder. Das können Sie positiv nehmen, als Kompliment, müssen es aber nicht – speziell bei etwas so Persönlichem wie Aktbildern. Ihr Schwager und seine Frau haben sich durch das Nachstellen in die Bilder und damit in Ihr Schlafzimmer geschlichen. Und dort wollten Sie vermutlich mit Ihrem Mann alleine bleiben.

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Literatur:

Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1963, S. 11f., Fußnote 2

Illustration: Serge Bloch