»Eine Freundin ist seit vielen Jahren Vegetarierin. Sie stammt aus Bayern und lebt nun in der Schweiz. Bei jedem Besuch bei mir freut sie sich riesig über meine bayerischen ›Heimat‹-Brezen. Jetzt habe ich erfahren, dass viele Bäckereien - so auch meine - den Brezen Schweineschmalz hinzufügen. Meine Freundin weiß das nicht. Soll ich ihr das erzählen oder ihr die Freude lassen?« Uli J., Augsburg
Zunächst war ich überrascht, aber meine Recherchen haben ergeben, dass Schweineschmalz tatsächlich zu den traditionellen Zutaten von Brezen gehört. Allerdings mittlerweile eher selten, und auf den veröffentlichten Zutatenlisten von bekannten bayerischen Backbetrieben, die unter anderem für hervorragende Brezen bekannt sind, findet man die ausgelassene tierische Beimengung nicht.
Wohl aber bei Ihrem Hausbäcker, dessen Brezen Ihre Freundin so schätzt. Und diese Wertschätzung könnte ein jähes Ende finden, sobald Ihre Freundin davon erfährt. Man kommt zu der eigenartigen Situation, dass, solange Sie nichts sagen, alle Beteiligten glücklich sind. Sobald Sie Ihre Freundin aufklären und sie dann die Brezen vermutlich nicht mehr mag, geht es allen schlechter. Der Bäcker verkauft weniger, Sie können Ihren Besuch nicht mehr verwöhnen, und Ihrer Freundin ist die Freude an der heimatlichen Spezialität verdorben. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Ihre Freundin Ihnen sagt, sie wäre lieber nicht durch diese Erkenntnis aus dem Brezenparadies vertrieben worden.
Jedoch führt das Glückabzählen und -addieren zur Nützlichkeitsethik, dem Utilitarismus und damit zu John Stuart Mills gleichnamigen Buch mit dem bekannten Zitat: »Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten.« Da sehe ich die Lösung: Solange Sie nichts sagen, können Sie nicht wissen, ob Ihre Freundin lieber unwissend glücklich bliebe, aber im Zweifel würde ich mich eben an Mill halten und Ihre Freundin nicht als Narr oder Schwein behandeln, sondern beide Seiten kennen lassen.
Literatur:
John Stuart Mill, Utilitarianism, Parker, Son & Bourn, West Strand, London 1863Online abrufbar hier Eine deutsche Übersetzung gibt es in: Otfried Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, UTB/Francke Tübingen 1992. Das Zitat findet sich dort auf S. 89Oder eine zweisprachige Ausgabe: John Stuart Mill, Utalitarianism / Der Utilitarismus. Englisch / Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Dieter Birnbacher, Reclam Verlag, Stuttgart, 2006
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Illustration: Serge Bloch