Die Gewissensfrage

»Eine befreundete Kunsthistorikerin machte kürzlich Urlaub in einem Ferienhaus in Südtirol, in dem eine Druckgrafik eines bekannten Künstlers hängt, um die 15 000 Euro wert. Der Besitzer hat das Haus von seinen Eltern geerbt, weiß aber offen-bar vom Wert der Grafik nichts. Ich meinte, man müsste ihm das sagen, ehe jemand die Grafik stiehlt. Meine Freundin widersprach, da sie ihn ziemlich unsympathisch fand. Sie überlegt, das Haus noch mal zu mieten und ihm dann – falls er höflicher wäre – einen Tipp zu geben. Wie ist diese Haltung moralisch zu bewerten?« Johanna W., Saarbrücken

So speziell Ihr Fall klingt, enthält er doch eine ganz klassische Fragestellung: Darf ich die Entscheidung, einem Mitmenschen zu helfen oder ihm einen Gefallen zu erweisen, von meiner Sympathie abhängig machen?Warum nicht? Es erscheint mehr als nahe liegend; zudem gründete der schottische Philosoph David Hume in seinem 1740 erschienenen einflussreichen Buch Über Moral eine Ethik ganz auf das moralische Gefühl. Hume zufolge kann die Vernunft allein moralisches Handeln nicht begründen. Entscheidend sei vielmehr die Sympathie.

Allerdings unterschied Hume zwischen universellen und privaten Gefühlen. Während die einen – zum Beispiel das Gefühl, etwas sei lasterhaft oder verdorben – die Moral be-gründen könnten, seien die anderen – etwa die persönliche Abneigung – lediglich Ausdruck des Egoismus und der Selbstliebe.Hier landet man nach dem Ausflug in die Philosophiegeschichte wieder beim wenig geschätzten Vermieter. Auch Ihre Freundin scheint ja ebenso wie Sie der intuitiven Meinung zu sein, im Grunde sollte man den Vermieter vor Schaden bewahren. Ein Standpunkt, den ich teile. Da der Besitzer den wahren Wert des Bildes nicht kennt, hat Ihre Freundin es dank ihres Wissensvorsprungs allein in der Hand, mit einem minimalen Aufwand – ein Satz am Telefon – einen hohen möglichen Verlust zu verhindern. Wenn sie nun nur deshalb davon abrückt, weil sie den Kunstverkenner unsympathisch findet, straft sie ihn ab, ohne dass er es weiß, und bedient damit egoistische, fast schon racheähnliche, spekulativ schadenfrohe Gefühle. Ohne diesen Aspekt könnte man vielleicht noch streiten, ob man wirklich verpflichtet ist, einem Menschen, dem man sich nicht verbunden fühlt, von sich aus zu helfen. Jemanden aus Abneigung absichtlich einem möglichen Schaden ausgesetzt zu lassen, geht jedoch deutlich einen Schritt zu weit.

Mehr zum Thema:
David Hume "A Treatise of Human Nature"
Vol. I. Of the Understanding; (erschienen 1739) Vol. II. Of the Passions. Vol. III. Of Morals. (Erschienen 1740)
Band III wird als "Über Moral" geführt und ist als solcher dann jetzt 2007 auch bei Suhrkamp in einer schönen von Herlinde Pauer-Studer kommentierten Ausgabe erschienen.

Meistgelesen diese Woche:

Weitergeführt hat Hume die Gedanken dann 1751 in dem Buch "An Enquiry Concerning the Principles of Morals - Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral" erschienen in einer Übersetzung von Gerhard Streminger bei Reclam, Stuttgart, 2. Auflage 2002

(Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.)

Illustration: Jens Bonnke