Die Gewissensfrage

Ist es in Ordnung, im Theater ab und an einzunicken? Oder sollte man sich am Riemen reißen, um die Arbeit der Schauspieler zu würdigen?

»Vor Kurzem diskutierte ich heftig mit einem Bekannten, nachdem ich ihm erzählt hatte, dass ich nach einem anstrengenden Arbeitstag im Theater weggenickt war. Mein Bekannter fand, mein Verhalten sei eine Beleidigung der Schauspieler und des Regisseurs. Ich hielt dagegen, dass weder Schauspieler noch Publikum gestört wurden und wohl niemand gemerkt hat, dass ich eingeschlafen bin. Ich muss aber zugeben, dass mir das leichte Wegdämmern im Theater manchmal sogar ausgesprochen angenehm ist« Horst-Peter I., Bochum

Das Problem, in Theatervorstellungen, Opern und dergleichen einzuschlafen, haben nicht nur Sie. Franz Werfels Roman Eine blassblaue Frauenschrift etwa endet damit, dass der Hauptprotagonist Leonidas in der Oper »unter der drückenden Kuppel dieser stets erregten Musik« wegdämmert: »Immer schwerer stülpt sich die Musik über Leonidas. Mit langen hohen Noten fahren die Frauenstimmen gegeneinander. Monotonie der Übertriebenheit! Er schläft ein.«

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Als Autor wird man von diesem Phänomen normalerweise wenig gestört, denn wenn Sie, liebe Leser, von meinen Ausführungen gelangweilt sind, blättern Sie einfach weiter. Und falls Sie doch einschlummern, habe ich den Vorteil, dass ich es ebenso wenig bemerke wie Ihr Weiterblättern.

Dennoch kenne ich das Problem, und zwar von beiden Seiten: als Vortragender und als Zuschauer. Auf der Bühne irritiert es tatsächlich ein wenig, in ein schlafendes Gesicht zu schauen – falls die Scheinwerfer die Sicht überhaupt ermöglichen. Das spräche dafür, sich als Zuschauer am Riemen zu reißen. Andererseits muss ich zugeben, dass auch ich schon bei den unterschiedlichsten Darbietungen eingenickt bin. Das Beantworten von Moralfragen ist nun einmal mühsam und zehrend.

Wie damit umgehen? Würde man allein vom Respekt vor den Menschen auf der Bühne und deren Leistungen sprechen, könnte man zur Forderung gelangen, sich im Zuschauerraum mit aller Gewalt wach zu halten. Ich finde allerdings, dass dies die Position des Zuschauers zu wenig berücksichtigt – vor allem wenn man sich fragt, wie das überhaupt funktionieren soll. Deshalb würde ich mich hier lieber an Seneca orientieren: »Homo sum, humani nihil a me alienum puto – Ich bin ein Mensch und glaube, dass mir nichts Menschliches fremd ist.« Menschen werden nun einmal müde, da ist es nur menschlich, dass sie auch einmal einschlafen. Besonders wenn sie im Dunklen still sitzen müssen und – bei Abendveranstaltungen – einen anstrengenden Tag hinter sich haben. Auch wenn es nicht schön für den Präsentierenden ist: Wer das nicht akzeptieren kann, darf nicht auf die Bühne. Und wenn die Schlafenden überhand nehmen, sollte man seinen Auftritt überdenken und nicht dem Publikum ein schlechtes Gewissen machen.

Literatur:

Franz Werfel, Eine blassblaue Frauenhandschrift, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1955

Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, XV, 95, 53

Das Zitat "Homo sum, humani nihil a me alienum puto" geht zurück auf Terenz, Heauton Timorumenos, 77, Akt I.i / Chremes, dort "Homo sum, humani nil a me alienum puto."

Illustration: Marc Herold