Die Gewissensfrage

Sollte man das letzte Brot dem Kunden überlassen, der einen netterweise vorgelassen hat?

»Vor Kurzem wurde ich beim Einkaufen an der Brottheke von einem anderen Mann vorgelassen, da er noch auf seine Frau wartete. Ich kaufte das letzte Vollkornbrot, worauf der Herr sagte, dass er es eigentlich kaufen wollte. Bin ich moralisch verpflichtet, ihm das Brot abzutreten, oder verfällt sein Anspruch auf das Brot, wenn er mich vorlässt?« GERNOT C., FULDA

Meines Erachtens hat Ihr Problem seinen Ursprung in einem Widerspruch. Oder, sagen wir vorsichtig, in der Kollision von zwei unterschiedlichen Bezugssystemen. Einerseits lässt Sie der Herr vor, das ist eine Geste aus dem Bereich der Freundlichkeit. Zwar tut er es nicht aus purer Nächstenliebe, sondern aus pragmatischen Gründen, weil er ohnehin noch auf seine Frau warten muss, dennoch bleibt es ein Akt der Freundlichkeit. Und damit etwas Freiwilliges.

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Andererseits verwenden Sie für Ihr Handeln die Begriffe »verpflichtet« und »Anspruch«. Und hier tut sich der Bruch auf: Beruhte der Entschluss des Herrn, Sie vorzulassen, auf Freiwilligkeit, auf dem Wunsch, einem anderen etwas Gutes zu tun, so wollen Sie ihm offenbar nur dann das letzte Brot überlassen, sofern er einen Anspruch hat, Sie zumindest moralisch verpflichtet sind. Mit anderen Worten: um einem äußeren oder inneren moralischen Gesetze genüge zu tun. Sie zahlen es ihm also in falscher Münze heim.

Das kann man lösen, indem man beide Handlungen auf dieselbe Basis stellt. Auf der Ebene der Pflicht hätte der Herr Sie nicht vorlassen müssen, weil er dazu nicht verpflichtet war. Er hätte also das Brot bekommen. Und bringt man auch Ihr Handeln auf die Ebene der Freundlichkeit, »müssten« Sie ihm, nachdem er sie freundlicherweise vorgelassen hat, auch freundlicherweise das Brot überlassen.

So gesehen sollten Sie dem Herrn das letzte Brot abtreten, wenngleich Sie streng genommen nicht dazu verpflichtet sind. Obwohl: doch. Wenn man netterweise vorgelassen wird, ist es einfach falsch, daraus zum Nachteil dessen, der so freundlich war, mehr Nutzen als die Zeitersparnis zu ziehen. Das missbraucht die Freundlichkeit und gefährdet damit deren Bestand. Sie wären deshalb auch moralisch verpflichtet gewesen, ihm das Brot zu überlassen.

Literatur:

Zu den unterschiedlichen Pflichten, insbesondere, der (weiten) Pflicht, zur fremden Glückseligkeit beizutragen lohnt es sich, den Anfang der Tugendlehre in Immanuel Kants Metaphysik der Sitten zu lesen. Akademie Ausgabe Band VI, S. 379ff.

Dort insbesondere S. 393:
„Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte. Also ist diese Pflicht nur eine weite; sie hat einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu thun, ohne daß sich die Gränzen davon bestimmt angeben lassen.“

Und zum Begriff der Pflicht als äußerer oder innerer Zwang auf S. 393:
„Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nöthigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein äußerer oder ein Selbstzwang sein. Der moralische Imperativ verkündigt durch seinen kategorischen Ausspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang, der also nicht auf vernünftige Wesen überhaupt (deren es etwa auch heilige geben könnte), sondern auf Menschen als vernünftige Naturwesen geht, die dazu unheilig genug sind, daß sie die Lust wohl anwandeln kann das moralische Gesetz, ob sie gleich dessen Ansehen selbst anerkennen, doch zu übertreten und, selbst wenn sie es befolgen, es dennoch ungern (mit Widerstand ihrer Neigung) zu thun, als worin der Zwang eigentlich besteht*). - Da aber der Mensch doch ein freies (moralisches) Wesen ist, so kann der Pflichtbegriff keinen anderen als den Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein) enthalten, wenn es auf die innere Willensbestimmung (die Triebfeder) angesehen ist, denn dadurch allein wird es möglich jene Nöthigung (selbst wenn sie eine äußere wäre) mit der Freiheit der Willkür zu vereinigen, wobei aber alsdann der Pflichtbegriff ein ethischer sein wird.“

Zum Begriff der Pflicht im Übrigen:
„Pflicht! Du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüthe erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern blos ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüthe Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ingeheim ihm entgegen wirken: welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werths ist, den sich Menschen allein selbst geben können?“

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademie Ausgabe Band V S. 86.

Das Spannungsfeld zwischen moralischem Gesetz und Freiheit bei Kant behandelt Theodor W. Adorno sehr überzeugend in seiner Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie im Sommersemester 1963.
Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Herausgegeben von Thomas Schröder, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010