»Ich bin 24, Studentin. Meine Eltern fahren dieses Jahr zum ersten Mal über Weihnachten in den Urlaub, was okay ist, ich verbringe Weihnachten eben mit meiner Schwester. Als ich anmerkte, dass ich nächstes Jahr wieder mit der ganzen Familie feiern möchte, entgegnete meine Mutter, dass sie ab jetzt selber entscheiden will, wo sie Weihnachten verbringe. Ist das in Ordnung?« Carla S., München
Es weihnachtet sehr. Nicht nur wegen des Datums und des Themas, sondern weil ich Geschenke bekomme – von meinen Lesern in Form solch wunderbarer Fragen. Die Grundkonstellation kennt man zur Genüge, nur eben immer andersherum: Soll ich Weihnachten zu Hause mit meinen Eltern feiern, wenn die das wünschen? Das habe ich schon vor Längerem bejaht. Doch nun wird es interessant. Denn Moral ist universell gültig und im Grunde symmetrisch, wie der unvergessene Münchner Rechtsphilosoph Lothar Philipps betonte und wie man an der Goldenen Regel sieht, die spiegelt und die Rollen tauschen lässt. Wenn also die Kinder den Eltern zuliebe mit ihnen Weihnachten verbringen sollten, dann müsste es umgekehrt genauso gelten.
Allerdings merkt man sehr schnell, dass das Prinzip Symmetrie im Verhältnis zwischen Kindern und Eltern an seine Grenzen stößt, weil die wechselseitigen Pflichten über große Strecken des Lebens unterschiedliche sind, sei es gegenüber kleinen Kindern, sei es gegenüber hilfsbedürftigen Eltern. Und obwohl Sie gerade in dem Alter sind, in dem sich beide in etwa gleichberechtigt gegenüberstehen, sehe ich hier eine Nachwirkung des vorherigen asymmetrischen Zustands: Nach 24 Jahren (auch Weihnachts-)Dauerdienst für ihre Kinder können sich Eltern ruhigen Gewissens dann Urlaub nehmen, wenn sie es wollen.
Es gibt einen schönen Witz: Ein Rabbiner, ein katholischer und ein evangelischer Geistlicher werden gefragt, wann das Leben beginnt. Der Katholik erklärt, zweifelsfrei sei der Zeitpunkt mit der Befruchtung gegeben. Der Protestant betont: mit dem Entstehen eines körperlich erkennbaren Embryos. Der Rabbiner denkt kurz nach und meint schließlich: »Nun ja, das Leben beginnt eigentlich erst, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Hund tot ist.« Gönnen Sie Ihren Eltern deren Leben.
Literatur:
Lothar Philipps ist vor wenigen Wochen am 24. November 2014 im Alter von 80 Jahren verstorben. Wir haben damit nicht nur einen scharfsinnigen und kreativen Denker verloren, sondern auch einen wunderbaren, freundlichen und humorvollen Menschen und Freund. Viele, zu denen auch ich gehöre, werden ihn vermissen. Möge er in Frieden ruhen, wünsche auch ich ihm. Und ich bin mir sicher, er wird es.
Lothar Philipps hat Symmetrie und Spiegelungen, ohne ihnen eine spezielle Arbeit zu widmen, in verschiedenen Aufsätzen behandelt. Beispielsweise in:
Eine juristische Datenbank für Probleme und Argumente. In: Arthur Kaufmann, Ernst-Joachim Mestmäcker, Hans F. Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde. Festschrift für Werner Maihofer zum 70. Geburtstag, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1988, S. 355-369
Strafrechtsprobleme in der Ästhetik des Kriminalromans. In: Heike Jung (Hrsg.), Das Recht und die schönen Künste, Heinz Müller-Dietz zum 65. Geburtstag, Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden 1998, S. 189-203 dort mit weiteren Nachweisen zur Theorie der Symmetrie bei Fn. 3 und 4
Täter und Teilnahme, Versuch und Irrtum. Ein Modell für die rechtswissenschaftliche Analyse. In: Rechtstheorie Bd. 5 (1974), S. 129-146
Ein Verzeichnis seiner Schriften findet sich als Anhang des von Bernd Schünemann, Marie-Theres Tinnefeld und Roland Wittmann herausgegebenen Bandes „Gerechtigkeitswissenschaft - Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstags von Lothar Philipps“ Berliner Wissenschafts-Verlag 2005
Jüngst erschien ein Sammelband mit Rechtslogischen Aufsätzen von Lothar Philipps: Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen, Anthologia, Edition Weblaw, Bern 2012
Eine ausführlichere Darstellung der Philipps’schen Spiegelung findet sich im Kapitel „Was du nicht willst... Die Goldene Regel und ihre Schwächen“ in meinem Buch „Nachdenken über Moral. Gewissensfragen auf den Grund gegangen“, Fischer Verlag 2012 auf S. 144ff.
Lothar Philipps hat darauf reagiert in einer Besprechung: „Regeln der Moral – Gedanken zu einem Buch von Rainer Erlinger“, Jusletter online 25. Februar 2013 Edition Weblaw, in der er vorschlägt, die nach ihm benannte Spiegelung besser nach Robert Musil zu benennen, der in der Prosasammlung „Nachlass zu Lebzeiten“ Überlegungen zu spiegelbildlich angeordneten Situationen in Romanen und im Leben angestellt hat.
Die Frage zur klassischen Konstellation: „Soll man den Eltern zuliebe Weihnachten nach Hause fahren?“ finden Sie hier.
Zum Thema Weihnachten mit der alten Mutter diese Gewissensfrage
Den Witz von den drei Geistlichen gibt es in den unterschiedlichsten Varianten und Versionen, manche mit zusätzlichen Schattierungen, etwa, dass der katholische Geistliche sagt, das Leben beginne, wenn sich „Mann und Frau (oder Vater und Mutter) in Liebe zusammen tun“. Oder dass der Rabbiner in einer Form von Jiddisch spricht: „Nebbich", meint der Rabbi. "Menschliches Leben beginnt, wenn ist tot der Hund und sind aus dem Haus die Kinder ... " Die hier verwendete Formulierung habe ich mit kleinen Änderungen dem Artikel „Was dem Leben dient“ von Rabbiner Julian Chaim Soussan in der Jüdischen Allgemeinen entnommen
Mehr zur Goldenen Regel:
Alfred Bellebaum, Heribert Niederschlag (Hrsg.), Was Du nicht willst, dass man Dir tu' ... Die Goldene Regel - ein Weg zum Glück?, UVK Universitätsverlag Konstanz 1999
Otfried Höffe, Goldene Regel, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, Verlag C.H.Beck, München 7. Auflage 2008
Eine tiefer gehende Analyse der Goldenen Regel findet sich in dem Kapitel „Was Du nicht willst... Die Goldene Regel und ihre Schwächen" in: Rainer Erlinger, Nachdenken über Moral. Gewissensfragen auf den Grund gegangen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, S. 123-160
Zur universellen Geltung von Moral:
Norbert Hoerster, Was ist Moral? Eine philosophische Einführung, Reclam Verlag, Stuttgart 2008
John Leslie Mackie, Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen. Reclam Verlag, Stuttgart 1981. Dort insbesondere Kapitel 4: Universalisierung, S. 104-130. Mackie führt darin zu dem hier interessierenden Punkt weiter aus: „Etwas, was für dich falsch ist, kann für mich richtig sein; doch sollte dies der Fall sein, so muss irgendein qualitativer Unterschied der Art nach zwischen dir und mir, zwischen deiner Situation und meiner bestehen, der unter den gegebenen Umständen als sittlich relevant anzusehen wäre.“
Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Walter de Gruyter Verlag, Berlin, 2. Auflage 2007 Dort insbesondere S. 31ff., 409ff.
Rainer Wimmer, Universalisierung, in: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal, Micha H. Werner, Handbuch Ethik, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2002, S. 517-521.
Die Asymmetrie zwischen Eltern und Kindern hat auch Aristoteles im achten Buch seiner Nikomachischen Ethik thematisiert, wenn er dieses Verhältnis im Rahmen seiner Betrachtungen zur idealerweise symmetrischen Freundschaft heranzieht: „Denn jeder von diesen hat seine besondere Tüchtigkeit und Aufgabe, und es sind andere Dinge, um derentwillen sie lieben.“ ... „Wenn aber die Kinder den Eltern gewähren, was diesen zukommt, und die Eltern den Kindern, was sie ihnen schuldig sind, so ergibt dies eine dauerhafte und tugendhafte Freundschaft.“ (1158b 16 ff.)
Illustration: Serge Bloch