»Dieses Jahr heiraten drei befreundete Paare, auf deren Hochzeiten ich eingeladen bin. Nun ist es so, dass diese drei Hochzeiten jeweils auf einen Freitag fallen und ich dafür jedesmal einen Urlaubstag nehmen müsste. Kann ich eine Hochzeit mit einer Notlüge absagen?« Susanne D., München
Der britische Anthropologe Robin Dunbar ist bekannt für seine Forschungen zur Größe des Freundeskreises und besonders für die nach ihm benannte Dunbar-Zahl. Sie besagt, dass Menschen aufgrund der Größe ihres Gehirns zwischen 100 und 250, im Schnitt etwa 150 »Freunde«, also stabile soziale Beziehungen haben können. Weitere Untersuchungen zeigten Abstufungen. Für gewöhnlich hat man einen engsten Freund oder Partner, fünf sehr enge Freunde, 15 enge und fünfzig gute Freunde, 150, die man Freunde nennen würde, 500 Bekannte und 1500, die man kennt. Interessanterweise hat Aristoteles etwas Ähnliches, ohne konkrete Zahlen zu nennen, schon theoretisch erkannt: »Es ist also sicher richtig, dass man nicht darauf aus ist, möglichst viele Freunde zu haben … Denn es dürfte gar nicht möglich sein, mit vielen eng befreundet zu sein.«
Was bedeutet das alles für Sie? Gäben sich drei Paare aus Ihrem engsten oder engeren Freundeskreis das Jawort, würden Sie sicherlich gern Ihre freien Tage dafür opfern. Offenbar sind jedoch zumindest einige davon nicht so eng, vielleicht sogar nur Bekannte, oder die Freundschaft ist eher einseitig, was gar nicht so selten vorkommt. All dies ist nicht gerade schmeichelhaft für die Betreffenden.
Damit kommen wir zur Lüge. Anders als Kant bin ich nicht der Meinung, dass man niemals lügen darf, auch nicht um einem Freund das Leben zu retten. Die Wahrhaftigkeit ist ein hoher Wert, aber eben ein Wert, nicht der einzige. Andere nicht zu verletzen ist ebenfalls ein wichtiges Anliegen. Einem Brautpaar zu sagen, dass sie es einem nicht wert sind, einen Urlaubstag zu opfern, bringt nichts, außer die beiden schwer zu kränken. Das Hochhalten der Fackel der Wahrhaftigkeit scheint mir dafür, speziell an deren Hochzeitstag, keine ausreichende Notwendigkeit zu liefern.
Literatur:
R. I. M. Dunbar,
Neocortex size as a constraint on group size in primates
Elsevier
Journal of Human Evolution
Volume 22, Issue 6, June 1992, Pages 469-493
R. A. Hill and R. I. M. Dunbar,
Social Network Size in Humans
Human Nature
Vol. 14, No. 1, pp. 53-72
Wei-Xing Zhou, Didier Sornette, Russell A. Hill, Robin I. M. Dunbar,
Discrete Hierarchical Organization of Social Group Sizes
Proc. R. Soc. B 2005 272 439-444; DOI: 10.1098/rspb.2004.2970. Published 22 February 2005
Valerio Arnaboldi, Andrea Guazzini, Andrea Passarella,
Egocentric Online Social Networks: Analysis of Key Features and Prediction of Tie Strength in Facebook
Computer Communications, Volume 36, Issues 10–11, June 2013, Pages 1130–1144
Jari Saramäki, E. A. Leicht, Eduardo López, Sam G. B. Roberts, Felix Reed-Tsochas, and Robin I. M. Dunbar,
Persistence of social signatures in human communication
PNAS January 21, 2014 vol. 111 no. 3 942-947
Pádraig MacCarron, Kimmo Kaski, Robin Dunbar,
Calling Dunbar's Numbers
Social Networks 47 (2016): 151-155
Online abrufbar hier
Maria Konnikova,
The Limits of Friendship
The New Yorker, 7. Oktober 2014
Online abrufbar hier
Nicholas Christakis, James H. Fowler,
Connected! Die Macht sozialer Netzwerke und warum Glück ansteckend ist
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010
Zur Häufigkeit der Einseitigkeit von Freundschaft:
Abdullah Almaatouq, Laura Radaelli, Alex Pentland, Erez Shmueli,
Are You Your Friends’ Friend? Poor Perception of Friendship Ties Limits the Ability to Promote Behavioral Change
PLOS ONE | DOI:10.1371/journal.pone.0151588 March 22, 2016
Online abrufbar hier.
Zur Frage, wie viele Freunde man haben sollte finden sich Ausführungen bei Aristoteles im IX. Buch seiner Nikomachischen Ethik. Gute Übersetzungen gibt es von Olof Gigon bei dtv, München 1991 und von Ursula Wolff bei rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006, sowie die klassische Übersetzung von Eugen Rolfes (ursprünglich Felix Meiner Verlag, Leipzig 1911, mittlerweile in der "Philosophischen Bibliothek", herausgegeben von Günther Bien im Felix Meiner Verlag Hamburg 2010)
Aristoteles, Nikomachische Ethik, IX. Buch, 10. Kapitel (1170b 20ff.):
»Soll man sich also möglichst viele Freunde machen, oder hat das, was für das Gastverhältnis wohl mit Recht empfohlen wird: ›weder bei vielen Gast noch bei niemanden‹, auch bei der Freundschaft seine Richtigkeit, so daß man also weder gar keine Freunde noch übermäßig viele haben soll? Bei den Freunden, die man des Nutzens wegen hat, dürfte das Gesagte nur zu sehr angebracht sein. Denn vielen Freunden Gegendienste zu leisten ist beschwerlich, und es zu vollbringen, ist das Leben nicht lang genug. Daher sind mehr Freunde, als für das eigene Leben genügen, überflüssig und der Ausübung der Tugend hinderlich, und so bedarf man ihrer nicht. Auch der Freunde, die man um der Lust willen hat, braucht man nur wenige, wie auch bei der Speise wenig Gewürz hinreicht.
Was aber die Tugendhaften betrifft, so kann man wirklich im Zweifel sein, ob man sich deren eine möglichst große Menge zu Freunden machen soll, oder ob es auch für die Zahl der Freunde eine Grenze gibt, so gut wie für die der Bürger einer Stadt. Es können ja so wenig zehn Bürger schon eine Stadtgemeinde bilden, als hunderttausend noch als Stadtgemeinde gelten. Die Anzahl kann hier vielleicht durch keine festen Ziffern ausgedrückt werden, sondern jede Zahl möchte zulässig sein, die zwischen zwei bestimmte Grenzen fällt. So ist auch die Zahl der (1171a) Freunde begrenzt, und ihr Maximum wird sich wohl danach bestimmen, mit wie vielen man zusammenleben kann. Hierin schien uns ja die Freundschaft recht eigentlich zum Ausdruck zu kommen; es ist aber offenbar ein Ding der Unmöglichkeit, mit vielen zusammen zu leben und sich unter sie zu teilen.
Ferner müßten die vielen Freunde wieder unter einander Freunde sein, wenn alle mit einander leben sollen, was sich schwerlich bei vielen findet.
Endlich ist es schwer, mit vielen Freud und Leid persönlich zu teilen; denn es könnte sich leicht gleichzeitig treffen, daß man mit dem einen froh und mit dem anderen traurig sein müßte.
Es dürfte sich also empfehlen, daß man nicht darauf aus ist, möglichst viele Freunde zu erwerben, sondern nur so viele, als zum gemeinsamen Leben genügen. Es ist ja auch allem Anscheine nach nicht möglich, mit vielen innig befreundet zu sein. Eben darum kann man auch nicht in mehrere verliebt sein. Denn eine solche Verliebtheit will ein Übermaß der Freundschaft sein, das nur gegen einen möglich ist, und so ist auch eine innige Freundschaft nur mit wenigen möglich.
So scheint es sich denn auch im wirklichen Leben zu verhalten. Freunde im Sinne jener hetäristischen Freundschaft, die gleichsam ein Bund fürs Leben ist, kommen nicht viele vor, und die Freundschaften, von denen die Dichter singen, haben immer nur zwischen zweien bestanden. Die viele Freunde haben und mit allen vertraut tun, sind eigentlich niemandes Freunde, sofern es nicht blos ein Verhältnis wie zwischen Mitbürgern sein soll, und man bezeichnet ihr Verhalten als Liebedienerei. Nur im Sinne der Freundschaft unter Mitbürgern kann man ohne Liebedienerei und sogar im besten Einklang mit den Forderungen der Ehrenhaftigkeit vielen Freund sein. Dagegen ist eine Freundschaft, die den sittlichen Vorzügen und der Person selber gilt, gegen viele nicht möglich, und man muß sich schon glücklich schätzen, wenn man auch nur wenige solche Freunde findet.«
Online nachzulesen bei Projekt Gutenberg, in der Übersetzung von Eugen Rolfes (ursprünglich Felix Meiner Verlag, Leipzig 1911, mittlerweile in der »Philosophischen Bibliothek«, herausgegeben von Günther Bien im Felix Meiner Verlag Hamburg 2010)
Illustration: Serge Bloch