Warum Alkoholiker manchmal trinken dürfen

Eine neue Therapiemethode zeigt: Sich ab und zu ein Glas zu genehmigen, ist für Alkoholsüchtige zielführender als die völlige Abstinenz - wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden.

Bisher galt: Selbst ein einziger Schluck Rotwein ist für Alkoholiker schon zu viel. Beim Konzept des »kontrollierten Trinkens« wird nun ein anderer Ansatz verfolgt.

Foto: Gerlinde/photocase.de

Das Problem: Abstinenzprogramme erreichen nur zehn Prozent der Alkoholiker.
Die Lösung: Auch in Deutschland wird immer öfter kontrolliertes Trinken angeboten – mit Erfolg.

»Ich bin seit 12 Jahren trocken«, sagte mein Bekannter Paul beim gemeinsamen Abendessen mit seiner Frau Margaret und mir. Dann griff er zu seinem Glas Rotwein, das er zum Lamm bestellt hatte.

Mir fiel erschrocken die Kinnlade herunter, und das lag nicht daran, dass ich keine Ahnung gehabt hatte, dass dieser gepflegte, sanfte Mann – ein erfolgreicher Physiotherapeut mit eigener Praxis – mehr als ein Jahrzehnt mit einer massiven Alkoholsucht hinter sich hatte. Wir kannten uns schon lange, fast zehn Jahre, aber nicht besonders gut. In seiner Praxis berät er seine Klienten gerne auch über eine gesunde Lebensweise, Sport, Ernährung. Erst bei diesem Abendessen erzählte er zum ersten Mal von seiner brutalen Kindheit, wie er als Jugendlicher von zuhause weglief, auf der Straße landete, zuviel trank, um sich warm zu halten. Wie er mit seiner Alkoholsucht komplett abstürzte und später dann auch zu harten Drogen griff. »Richtig Gosse, obdachlos«, Paul beschrieb seine Jugend in knappen, drastischen Worten. »Und dann Suchtklinik, anonyme Alkoholiker, das ganze Programm.«

Meistgelesen diese Woche:

Mein entsetzter Blick folgte ihm, wie er das Glas Merlot zum Mund führte. In meinem Kopf schwappten die Klischees: Einmal Alki, immer Alki. Er bemerkte meinen Blick, setzte das Glas wieder ab und erklärte, in einem Ton, der signalisierte, dass er das schon tausend Mal wiederholen musste: »Ich weiß, ich weiß, ich habe das im Griff.«

Durch Paul hörte ich zum ersten Mal vom »kontrollierten Trinken«. Vereinfacht ausgedrückt: Ein Alkoholiker setzt sich mit Hilfe eines Suchtberaters ein individuelles Ziel, pro Woche nur eine bestimmte Menge Alkohol zu trinken. Bei Paul sind das fünf Gläser Wein oder Bier in der Woche. Paul ist sozusagen halbtrocken. Aber Menschen wie Paul sind auch der Grund, warum das Konzept des kontrollierten Trinkens für viele Suchtberater ein rotes Tuch ist. Der Glaube, die Sucht im Griff zu haben, hat schon zu viele zum nächsten Absturz geführt.

Gerade wir Deutschen sind im Alkoholkonsum Spitzenreiter: Jeder von uns trinkt im Durchschnitt 240 Liter Bier pro Jahr, umgerechnet 10,7 Liter reinen Alkohol. Laut des Münchner Instituts für Therapieforschung trinkt jeder Sechste regelmäßig so viel, dass er seiner Gesundheit schadet. Mit entsprechenden Folgen: Jedes Jahr sterben in Deutschland mehr als 74 000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs. Alkohol ist unser drängendstes Suchtproblem. Kein Wunder, dass Suchtberater davor warnen, auch nur die Gefahren eines Glas Weins zu verharmlosen.

Die Anonymen Alkoholiker haben mit ihren lebenslangen Abstinenzprogrammen Millionen von Abhängigen geholfen und die Debatte geprägt. Aber gleichzeitig ist bei kaum einer Krankheit die Behandlungslücke so groß: »Von den zwei Millionen Alkoholabhängigen in Deutschland bekommen nur 10 bis 15 Prozent professionelle Hilfe«, erklärte jüngst der Suchtforscher Karl Mann in der Zeit. »Stellen Sie sich vor, was es in der Krebsmedizin heißen würde, wenn nur jeder zehnte Tumorpatient behandelt wird. So sind die Zahlen bei der Alkoholsucht, das ist skandalös. Da sollten sich Suchtforscher und Mediziner schon fragen, ob wir nicht auch anderen Ansätzen als dem absoluten Verzicht eine größere Chance geben sollten.«

Die Wahrheit ist: Abstinenzprogramme haben eine vernichtend kleine Erfolgsquote. Nur zehn Prozent der Abhängigen begeben sich laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung überhaupt in eine Suchttherapie, und auch bei diesen zehn Prozent bleibt nur ein Fünftel länger als ein Jahr abstinent. Das Prinzip alles oder nichts führt halt oft genug ins Nichts.

Gerade in Kanada und Australien probieren Suchttherapeuten deshalb einen anderen Weg: das kontrollierte Trinken oder sogenannte MAPs, Managed Alcohol Programs. In Kanada wurde das erste MAP schon vor 22 Jahren im größten Obdachlosenheim von Toronto eingeführt, und zwar vor allem für die schwersten Fälle. In den meisten Obdachlosenheimen gilt die Regel: Wer trinkt, fliegt raus. Bei den MAPs wird Alkohol nicht nur erlaubt, sondern die Obdachlosen bekommen ihn sogar regelmäßig alle paar Stunden ausgeschenkt. Schadensbegrenzung ist das oberste Gebot: Die MAP-Programme verhindern, dass die Leute auf der Straße landen, sich zu Tode trinken oder durch die Kälte sterben.

Seit einigen Jahren wird das Prinzip auch in Deutschland immer populärer, steht nun offiziell als Alternative in den Leitlinien der Fachgesellschaften. In Freising bietet die Psychosoziale Beratungs- und Behandlungsstelle PROP seit kurzem ein Beratungsprogramm zum kontrollierten Trinken an. Diese Woche trifft sich die Gruppe mit ihren neun Mitgliedern zum neunten Mal. »Grundsätzlich arbeiten wir mit Menschen, die noch nicht abhängig sind, sondern einen zu großen Gewohnheitskonsum haben«, sagt Suchtberaterin Anne Krüger, die die Gruppe leitet. »Wir nehmen aber auch Menschen auf, die eine Abhängigkeit haben. Unser Motto ist: Besser weniger trinken als gar nichts verändern.« Abstinenz sei der Königsweg, sagt Krüger, aber sie richtet ihr Angebot vor allem an Problemtrinker, die zur Abstinenz (noch) nicht bereit sind. »Ich gebe den Patienten die Verantwortung für ihre Entscheidung. Wenn jemand nicht abstinent leben will, können Sie sich auf den Kopf stellen, aber solange jemand die Motivation nicht hat, können Sie ja niemanden dazu zwingen.«

Stattdessen führen die Teilnehmer ihrer ambulanten Gruppe ein Trinktagebuch, reden darüber, wie die vergangene Woche lief und nehmen sich ein Ziel für die kommende Woche vor, zum Beispiel nie vor 18 Uhr oder keinen harten Alkohol zu trinken: »Wir haben Patienten, die können dann sagen, ich bin unter der Woche abstinent und trinke am Wochenende drei Bier.« Bei Abhängigen ist das natürlich schwieriger, Abhängigkeit bedeutet ja gerade, dass einem die Kontrolle entgleitet.

Krüger spielt konkrete Szenarien durch: Wie gehe ich mit Ausrutschern um? Was sind die Risikofaktoren? Wenn ich aufs Volksfest gehe, wieviel trinke ich dann oder schaffe ich es, gar nichts zu trinken? Was kann ich sagen, wenn mir Alkohol angeboten wird? Zum Beispiel: »Ich muss Auto fahren, deshalb trinke ich heute nichts.«

Der Erfolg gibt ihr Recht: »Den meisten gelingt es ziemlich gut, ihre Ziele zu halten.« Nur einer aus der ersten Gruppe stieg aus, allerdings aus einem guten Grund: Er entschied sich für die Abstinenz. Auch die Sozialpädagogin gibt zu: »Abstinenz ist einfacher als kontrolliertes Trinken. Beim kontrollierten Trinken ist jeder selbst dafür verantwortlich, wann und wieviel er trinkt. Zu sagen, ›Ich trinke gar nichts‹ ist leichter als zu sagen als ›Ich trinke heute zwei Bier und höre dann auf‹.«

Anne Krüger hat ihre Ausbildung beim deutschen Suchtforscher Joachim Körkel absolviert, der die Programme zum kontrollierten Trinken in Deutschland populär gemacht hat und damit wirbt, im Durchschnitt reduzierten die kontrollierten Trinker ihren Konsum um die Hälfte. Krüger ist übrigens auch dazu ausgebildet, Menschen im kontrollierten Rauchen und kontrollierten Drogenkonsum zu beraten, und zwar bei allen Drogen von Cannabis zu Partydrogen und Heroin.

Für einen gemeinnützigen, angesehenen Verein wie PROP passt das ins Programm: PROP bietet mit ambulanten Beratungsstellen, einem Drogennotdienst, einer stationären Einrichtung und betreutem Wohnen fast die ganze Palette von Suchtprävention bis Entzug und Nachbetreuung mit Arbeitsvermittlung an. »Da macht es doch Sinn, dass wir auch kontrolliertes Trinken anbieten«, sagt Krüger. »Für die Patienten, die zur Abstinenz nicht bereit waren, hatten wir bisher kein Angebot, die fielen durch alle Raster.« Die einzigen, für die das Programm nicht in Frage kommt, sind die, die schon abstinent leben. Logisch, denn die können ja nichts reduzieren.

Die Therapie mit modernen Medikamenten wie Nalmefen, die die Zufuhr von Dopamin beim Alkoholtrinken, also das High, stoppen sollen, sieht Krüger nur im Einzelfall als sinnvoll: »Da fehlt mir die Komponente Eigenverantwortung. Das therapiert die Symptome, nicht die Ursachen.«

Das Programm Kontrolliertes Trinken ist übrigens auch bei den Kassen anerkannt, die bezuschussen den Kurs. »Vielen kommen auch über kontrolliertes Trinken zur Abstinenz. Das darf und muss jeder für sich entscheiden«, sagt Krüger und dann folgt der entscheidende Satz: »Die Wege aus der Sucht sind so individuell wie die Menschen das auch sind.«

Beim kontrollierten Trinken ist das Stigma geringer, die Einstiegsschwelle niedriger, und das Abstinenz-Dogma »nie wieder auch nur eine Likörpraline« schreckt eben viele ab. Während Krüger in erster Linie Suchtgefährdete betreut, setzen es andere vor allem für Langzeit-Alkoholiker ein. Das wird auch in Deutschland vermehrt gefördert. Die Begründung ist einfach: Gerade für Schwerstalkoholiker ist ein betreutes Programm mit kontrollierter Alkoholabgabe gesünder als der Teufelskreislauf aus Absturz – Entzugsklinik – Absturz.

In München wird das sogar mit Schwerstabhängigen in Obdachlosenheimen gemacht: Die Suchtberater werten es als Erfolg, wenn ein Langzeit-Alkoholiker statt hochprozentigen Schnaps nun Bier trinkt. »Hochprozentige Getränke«, sagte eine Münchner Suchtberaterin im Interview mit der SZ, »zerstören Geist und Gehirn im Zeitraffer. Den Abhängigen überhaupt keinen Alkohol zu geben, wäre gefährlich. Sie müssen ihren Pegel halten, sonst drohen Krämpfe und Delirium.«

Natürlich ruft das Konzept vehemente Kritiker auf den Plan, die Abstinenz für den einzig wahren Weg halten. Die Kritik wird besonders laut bei Programmen wie dem der Stadt Amsterdam, wo obdachlose Alkoholiker für sechs Stunden Straßen kehrten und mit fünf Bier und einer halben Schachtel Zigaretten belohnt wurden. »Sucht auf Staatskosten?«, lauteten die Schlagzeilen.

Der frühere Fußballprofi Uli Borowka, trockener Alkoholiker und Autor der Autobiographie Volle Pulle, beschuldigte jüngst bei Sandra Maischberger die Pioniere des kontrollierten Trinkens gar der »Körperverletzung am trockenen Alkoholiker.« Denn: »Einer unter
15 000 kann kontrolliert trinken.« Dabei saß er allerdings der Rentnerin Monika Schneider, 72, gegenüber, die nach zahlreichen Entzugstherapien in ihrem Seniorenheim täglich drei Glas Sekt bekommt – nicht genug, um betrunken zu werden, aber genug, um ihren Pegel zu halten. Monika Schneiders Seniorenheim ist inzwischen eines von vielen, das kontrolliertes Trinken in Deutschland unter Aufsicht anbietet.

Es gibt nicht viele ernstzunehmende Studien zu dem Thema, aber die wenigen, die es gibt, zeigen, dass kontrolliertes Trinken eine ernsthafte Alternative zum Abstinenz-Dogma ist – vor allem, wenn es unter Aufsicht passiert, mit erfahrener Betreuung und der Unterstützung einer Gruppe Gleichgesinnter.

Eine Studie, die im Canadian Medical Association Journal veröffentlicht wurde, besagt, dass MAP-Teilnehmer in Ottawa nicht nur ihren Alkoholkonsum reduzierten, sondern auch ihre Aufenthalte in Gefängnissen und Notaufnahmen. Die bisher größte Studie mit 651 Teilnehmern in Großbritannien, die abstinente und kontrollierte Trinker verglich, kam zu dem Schluss, dass die Selbstmotivation der Beteiligten der entscheidende Faktor für den Erfolg ist, nicht das Ziel abstinent oder nicht-abstinent. Eine jüngere Studie im Harm Reduction Journal von 2016 zeigt, dass MAP-Teilnehmer in Ontario positive Veränderungen erleben, »einschließlich weniger Krankenhausaufenthalte, Entzugsprogramme und Polizeikontakt.« Die Befürworter können damit immerhin nachweisen, dass die Kosten durch MAPs nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Allgemeinheit signifikant sinken. Bernie Pauly von der University of Victoria/Kanada, die die jüngste Studie leitete, hält das für ein wichtiges Argument: »Es ist wohl einfacher, die Gesellschaft davon zu überzeugen, wenn wir eine klare Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen können.« Aber der Hauptnutzen kommt natürlich den Betroffenen zugute: »Sie werden nicht obdachlos, bleiben gesünder, finden eher Arbeit und ihre Lebensqualität verbessert sich massiv.«

Das interessanteste ist, dass Suchtberater feststellen: Wenn sie ihren Klienten regelmäßig Alkohol geben, trinken sie oft weniger. Das klingt paradox, macht aber Sinn. Denn wer mit dem Promilleteufel ringt, kämpft meist auch mit der Furcht vor Entzugserscheinungen, die er meint, mit Alkohol behandeln zu müssen. Aber wer konstant moderat trinkt, kann sich im Idealfall dafür entscheiden, weniger zu trinken, ohne mit schweren Entzugserscheinungen zu kämpfen.

Wie bei Paul. Sein Pensum von fünf Gläsern Wein die Woche erreicht er fast nie. Das Glas Merlot mit mir war in dieser Woche sein erstes.