Der Fluss, der gegen seine Verschmutzung klagt

Eine weltweite Bewegung versucht, für die Natur juristische Rechte zu erstreiten. Unsere Kolumnistin erklärt, wie das bei einem Fluss in Neuseeland gelang – und bei einem See in Florida trickreich verhindert werden könnte.

Der Whanganui in Neuseeland – 2017 wurden ihm nach einem langen Kampf juristische Rechte zugesprochen, als einem der ersten Flüsse weltweit.

Foto: Education Images/Getty Images

Mary Jane ist eine Schönheit. Im Morgengrauen spiegeln sich in ihrer glatten Oberfläche die Kiefern der Isle of Pine Preserve; im Sommer nutzen Einheimische und Touristen ihr kühles Wasser gern zum Baden, und das ganze Jahr über versorgt und nährt sie Moore und Sümpfe in der Gegend südöstlich von Orlando, Florida. Daneben ist Lake Mary Jane der erste See in den Vereinigten Staaten, der Wellen schlägt, weil er einen Gerichtsprozess anstrengt.

Ein Bauunternehmer möchte nördlich des Sees auf mehr als 800 Hektar Land, auf dem sich derzeit noch Moore, Kiefern- und Zypressenwälder ausbreiten, Wohnungen und Büros bauen. Also taten Lake Mary Jane, drei weitere Seen und ein Sumpfland in Orange County, was Amerikaner tun, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen: Sie nahmen sich einen Anwalt.

»Wir müssen diesen ökologischen Schatz bewahren«, fordert Chuck O’Neal, Vorsitzender des Florida Rights of Nature Network, der den Rechtsstreit im Namen des Sees und der anderen Gewässer anstrengte. »Hier herrscht ein Bauboom, bei dem Wälder in Rekordgeschwindigkeit niedergemacht und riesige Naturrefugien zerstört werden. Es ist wichtig, dass die örtlichen Verwaltungen das Recht haben, ihre Umgebung zu schützen.«

Meistgelesen diese Woche:

O’Neal wuchs in Orange County auf, dem dortigen Regierungsbezirk, dessen Hauptort Orlando ist. In den letzten Jahrzehnten beobachtete er zunehmend verärgert, wie Bauunternehmer immer mehr Quadratmeter in der Gemeinde zubetonierten; auch weil der Vergnügungspark Disney World, der im Südwesten Orlandos liegt, jedes Jahr Millionen von Touristen anzieht, die Herbergen und Restaurants brauchen. 2013 gründete O’Neal die Kampagne Speak Up Wekiva, benannt nach einem örtlichen Fluss, um eine Lobby für die Flora und Fauna im Staat zu schaffen. Zu der Zeit glaubte der Geschäftsmann, der selbst hauptberuflich erschwingliche Wohnungen baut, die wachsende Naturrechts-Bewegung sei »zu radikal«. Aber nachdem mehrere Hurrikane und Überschwemmungen 2018 massives Fischsterben und Wasserverschmutzung in Florida verursacht hatten, änderte er seine Meinung: »Da verstand ich, dass wir das Rechtssystem von Grund auf ändern müssen.«

Es geht ums Ganze, um eine grundsätzliche Veränderung der Rechtsprechung

Was O’Neal mit der Klage erreichen möchte, ist mehr als nur ein weiterer Prozess gegen einen ehrgeizigen Bauunternehmer. Es geht ihm ums Ganze, um eine grundsätzliche Veränderung der Rechtsprechung. »Die aktuellen Gesetze benachteiligen die Natur, weil Natur als Besitz betrachtet wird. Wenn du ein Gelände kaufst, kannst du damit so ziemlich machen, was du willst. Unser Planet muss berücksichtigen, dass diese Gewässer, Wälder und Tiere das Recht haben zu leben.«

Hier holt O’Neal im Zoom-Interview weit aus, um sein Argument zu stützen, dass die Definition, wer juristische Rechte besitzt, erweitert werden muss: »Als die Verfassung geschrieben wurde, wurden nur einigen wenigen Leuten juristische Rechte zugestanden, im wesentlichen männlichen Grundbesitzern mit weißer Haut. Der Punkt ist, dass wir nun juristische Rechte für die Natur verankern müssen.«

Mit dieser Ansicht steht O’Neal nicht allein da, im Gegenteil: Im November 2020 befürworteten die Wähler in Orange County mit fast neunzigprozentiger Mehrheit einen Zusatz zu ihrer Gemeindeverfassung, der »das Recht der Natur« schützt. »Und das in Florida, wo sich die Leute sonst auf nichts einigen können!«, jubelt O’Neal. »Der Zusatz gesteht der Natur vier Rechte zu: das Recht zu existieren, zu fließen, gegen Verschmutzung geschützt zu werden und ein gesundes Ökosystem aufrecht zu erhalten.« Ebenfalls verankert wird darin das Recht aller Bürger auf sauberes Wasser. Dass 89 Prozent der 1,4 Millionen Wähler in der Gemeinde für die Aufnahme dieser Passagen stimmten, hält O’Neal für »einen gewaltigen Erfolg«.

O’Neals Einsatz für diese »Naturrechte« macht ihn zum Teil einer weltweiten Bewegung, die bisher hauptsächlich von indigenen Völkern geprägt wurde. »Mir wurde schon als Kind beigebracht, dass Wasser lebt. Es kann hören. Es kann Erinnerungen bewahren«, sagt Kelsey Leonard, die erste indigene Amerikanerin, die erst einen wissenschaftlichen Abschluss an der Oxford Universität machte und dann an der Harvard Universität Wasserwissenschaften studierte. Ihren TED-Talk mit dem Titel »Warum Seen und Flüsse die gleichen Rechte wie Menschen haben sollten« sahen knapp vier Millionen Menschen, aber wäre es nach ihr gegangen, hätte der Titel eigentlich lauten sollen: »Warum die Natur mehr Rechte als der Mensch haben sollte«. Via Zoom erklärt sie in ihrem Büro an der University of Waterloo im kanadischen Ontario, wo sie als Professorin lehrt: »Menschen sind fasziniert davon, Gott zu spielen und über die Natur zu herrschen. Durch Naturgesetze versuchen wir, die Schäden zu heilen, die durch Rechtsprechung in der Vergangenheit angerichtet wurden.«

Leonard weist darauf hin, dass Indigene wie sie selbst bis 1924 laut US-Verfassung nicht einmal als Bürger galten. In der Tat hat sich die juristische Definition einer »Person« im amerikanischen Recht im Laufe der Jahrhunderte stark verändert. Erst wurde sie auf Sklaven erweitert, dann auf Frauen, Kinder und schließlich sogar auf Firmen. »Als Teil des Shinnecock-Stamms und als Rechtsexpertin hinterfrage ich den moralischen Kompass der westlichen Welt, in der eine Firma als juristische Peron gilt, aber nicht die Natur«, sagt Leonard. »Wenn man einer Firma dieses Recht zugestehen kann, warum nicht den Great Lakes? Warum nicht dem Mississippi? Warum nicht den vielen Gewässern auf unserer Erde, die wir alle zum Überleben brauchen?«

Laut Leonard erzwingt die inzwischen fast überall deutlich sichtbare Umweltzerstörung mit ihren Waldbränden, Dürreperioden und Überschwemmungen die Einsicht, dass die menschliche »Herrschaft« über die Natur vernichtende Konsequenzen hat, wenn niemand sich für die Natur einsetzt und in ihrem Namen die Stimme erhebt. »Der Status Quo erlaubte uns die Zerstörung der Natur«, erklärt sie. »Wenn wir diesen Status Quo aufrechterhalten, werden wir nicht das tun, was wir tun müssen, um den Klimawandel aufzuhalten. Wir sind an einem Wendepunkt.«

Nach einer Kampagne indigener Völker erkannte Ecuador 2008 als erstes Land der Welt offiziell »die Rechte von Mutter Erde« an. Alle Bürgerinnern und Bürger in Ecuador können im Namen der Natur vor Gericht ziehen. Dieses Grundrecht nutzten die Global Alliance for the Rights of Nature (GARN) und andere Kläger erfolgreich, um zum Beispiel einen juristischen Sieg gegen ein Bauunternehmen zu erringen, das seinen Bauschutt in einen Fluss warf. Als Folge des Urteils musste der Fluss gereinigt werden. In Bayern versucht die Initiative »Rechte der Natur« gerade mit ähnlichen Argumenten, genug Unterschriften für ein Volksbegehren zu sammeln, um Naturrechte in die bayerische Verfassung aufzunehmen.

2017 errangen vier Flüsse in Kolumbien, Indien und Neuseeland juristische Rechte, darunter der Whanganui River, einer der längsten Flüsse Neuseelands

»Statt die Natur als Besitz zu behandeln, erkennen Naturrechte (›Earth Laws‹) an, dass die Natur in all ihren lebendigen Formen das Recht hat zu existieren, weiterzuleben, sich zu erhalten und zu regenerieren«, so beschreibt GARN seine Mission. Würde das Lebensrecht der Natur im großen Stil juristisch verankert, so hätte das weitreichende Folgen für die Frage, wer die Ressourcen der Erde benutzen, besitzen und ausbeuten darf.

2017 erlangten vier Flüsse in Kolumbien, Indien und Neuseeland juristische Rechte, darunter der Whanganui River, einer der längsten Flüsse Neuseelands. Die Māori hatten mehr als ein Jahrhundert lang darum gerungen, den Whanganui zu retten und erreichten schließlich eine Übereinkunft, die das Personenrecht des Wassers sowie eines ehemaligen Nationalparks namens Te Urewera akzeptierte. Die Gerichte entschieden, dass der Fluss weder den Māori noch der Regierung gehört, sondern ein eigenes Wesen ist. Die Māori und die neuseeländische Regierung teilen sich nun die Vormundschaft.

Solche juristischen Entscheidungen sind keine Einzelfälle mehr. In Pittsburgh, Pennsylvania, etwa wurde nach einem Rechtsstreit mit Fracking-Unternehmen per Gesetz festgeschrieben, dass »natürliche Gemeinschaften und Ökosysteme unveränderliche und fundamentale Rechte haben zu existieren und zu gedeihen.« In unterschiedlichen Versionen existieren Naturrechte inzwischen in etwa 20 Ländern, darunter Kanada,Bolivien und Uganda, bei einem halben Dutzend indigener Völker in Nordamerika sowie in kleineren Städten und Gemeinden wie eben Orange County, Florida.

»Da findet eine Demokratisierung statt«, sagt Kelsey Leonard, die Professorin aus Ontario. »Die Mehrheit der Weltreligionen und Kulturen haben immer schon anerkannt, dass Wasser lebt.« Sie ist davon überzeugt, dass Naturgesetze Gemeinschaften dazu ermächtigen, Bedrohungen wie die Klimaerhitzung schneller und umfassender zu bewältigen.

Was Leonard und die Naturrechtsbewegung damit erreichen wollen, ist nichts anderes als eine fundamental andere Beziehung zu unserer Umwelt, »eine, die auf Verantwortung beruht, statt auf Eigentumsrecht«. Wasser etwa sei traditionell immer Gemeingut gewesen und niemand sollte es exklusiv für sich besitzen. Aus dieser Perspektive betrachtet sind Naturrechte also gar keine neue Erfindung; schließlich verstanden sich Menschen Jahrtausende lang eher als Teil der Natur, denn als ihre Eigentümer.

Trotz dieser Argumentation steht es eher schlecht um Mary Janes Erfolgsaussichten vor Gericht. Sofort nachdem die Einwohner von Orange County für die Aufnahme der Wasserrechte in ihre Gemeindeverfassung gestimmt hatten, schrieb die staatliche Legislative auf die Schnelle einen Passus in ein Abwassergesetz, der es kommunalen Verwaltungen verbietet, einem Teil der natürlichen Umgebung Rechte zu gewähren.

»Genau deshalb ist es so wichtig, ein breites Netzwerk und Konsens aufzubauen«, sagt Leonard. »Das ist nichts, was nur auf den Schultern der indigenen Bevölkerung lasten kann. Es geht darum, Herzen und Hirne umzustimmen.« Aber sowohl O’Neal als auch Leonard sind davon überzeugt, dass sich ihre Bewegung den Weg bahnen wird – unaufhaltsam und beharrlich wie ein mächtiger Fluss.