Winston Vickers kann in seinem Büro im UC Davis Wildlife Health Center eine spannende und sehr ungewöhnliche Video-Übertragung verfolgen. Sein Team hat Dutzende strategisch klug platzierter Kameras auf den Pfaden von Berglöwen, auch Puma genannt, im südkalifornischen Orange County montiert. Während wir per Zoom sprechen, wartet er darauf, dass sich eine solche Raubkatze dem toten Reh nähert, das seine vier Biologen als Köder ausgelegt haben. Sie hoffen, einen Berglöwen anzulocken, um ihn danach betäuben und ihm ein GPS-Halsband anlegen zu können. Vickers, 60, ist der Direktor des »Mountain Lions Projects« an der UC Davis und einer der renommiertesten Puma-Experten der Welt. »Schauen Sie sich nur diese Klauen und diese Zähne an!«, schwärmt der großgewachsene, schlanke Biologe halb im Scherz von seinen Begegnungen mit den Katzen. »Sie wiegen etwa genau so viel wie ich, aber im Gegensatz zu mir bestehen sie nur aus Muskeln!«
Vickers’ Forschung hat einen bestürzenden Hintergrund: Ohne menschliche Hilfe haben die Berglöwen in Südkalifornien kaum noch Überlebenschancen. Los Angeles ist die einzige Metropole in der westlichen Welt, in der große Raubkatzen heimisch sind. (Die einzige andere Großstadt weltweit mit wilden Raubkatzen ist Mumbai.) Aber die Pumas sind bereits durch Inzucht geschwächt, weil die vielen Autobahnen in und um Los Angeles sowohl den Zuzug neuer Berglöwen als auch die Abwanderung der Jungtiere fast unmöglich machen. Schon jetzt zeigen Pumababys Deformierungen. Jüngere männliche Berglöwen werden von den älteren Rivalen getötet, weil in den Bergen einfach nicht genügend Platz für alle ist.
Am 22. April, dem internationalen Earth Day, setzten Umweltschützer deshalb zum ersten Spatenstich für eine spektakuläre Konstruktion an: das »Wallis Annenberg Wildlife Crossing«, eine Wildtierbrücke, welche die Autobahn 101 am Liberty Canyon westlich von Los Angeles überqueren soll. Mit Kosten von 88 Millionen Dollar (etwa 83 Millionen Euro) wird das Bauwerk die teuerste und größte Wildtierbrücke der Welt. »Wir haben es geschafft!«, rief Beth Pratt von der National Wildlife Federation über den Verkehrslärm hinweg. »Diese Überquerung wird viele Jahre lang als Beweis dafür studiert werden, dass Menschen und Wildtiere nebeneinander leben können.«
88 Millionen Dollar klingen extrem, bis man die Alternativen durchrechnet: In den letzten drei Jahren haben Zusammenstöße mit Wildtieren in Kalifornien Kosten von über einer Milliarde Dollar verursacht. Demgegenüber können Wildbrücken tödliche Zusammenstöße mit Rehen nachweislich reduzieren – um 98,5 Prozent in Utah und fast 90 Prozent in Colorado. Fraser Shilling, der Co-Direktor des Road Ecology Center an der Universität Davis, hat zur geplaten Wildbrücke ausgerechnet, dass sich »das Projekt schon allein dadurch von selbst bezahlt, dass es Kollisionen mit Rehen reduziert«.
Etwa ein Dutzend Berglöwen leben derzeit noch in den Santa Monica Bergen und zwei Dutzend weiter südlich in Orange County. Ein Berglöwe braucht etwa 400 Quadratkilometer Revier. Theoretisch wären die 65.000 Hektar der Santa Monica Berge perfektes Puma-Terrain. Sie erstrecken sich von den Hollywood Hills, wo die Stars leben, bis runter an die Pazifikküste in Malibu. Sie beherbergen Koyoten, Rehe, Füchse, Luchse, Waschbären, sogar den einen oder anderen Schwarzbären. Aber das Gebiet wird von vier Autobahnen durchschnitten – tödliche Hindernisse die Wildtiere. Jedes Jahr geraten zahllose Tiere beim Versuch, die Autobahnen zu queren, unter die Räder. Auch deshalb haben der kalifornische Staat und die Annenberg Stiftung jeweils 25 Millionen Dollar zur Brücke beigesteuert, die Stiftungen von Leonardo di Caprio und anderen Alphatieren sowie mehr als 5000 Spender auf der ganzen Welt finanzieren den Rest. »Wir beginnen heute damit, das Land und seine Wildtiere wieder zu verbinden«, sagte Großspenderin Wallis Annenberg beim Spatenstich. »Sie hätten am besten erst gar nicht getrennt werden sollen.«
Der einzige Löwe, der es bisher geschafft hat, die Autobahnen 405 und 101 unbeschadet zu überqueren, trägt den Namen P-22 und lebt seit gut zehn Jahren in Griffith Park, in Sichtweite des berühmten Hollywood-Schriftzugs. Durch den Autoverkehr ist er abgeschnitten von potenziellen Gefährtinnen, mit denen er Nachwuchs zeugen könnte. Beth Pratt hat sich den majestätischen P-22 auf ihren Oberarm tätowieren lassen und vergleicht »den einsamsten Junggesellen Hollywoods« sogar mit »James Dean, ein Rebell in einem unbekannten Gelände« – obwohl Dean bekanntlich keine Schwierigkeiten hatte, Gefährtinnen zu finden.
Der Berglöwe P-22 wurde auch durch Pratts geschickte PR zum Helden einer ganzen Bewegung. Tausende kommen zum »P-22 Tag«, den Pratt jedes Jahr organisiert, und wandern mit ihr durch sein Revier. »Es geht darum, die Wege aus der Perspektive der Tiere zu sehen. 300.000 bis 350.000 Autos rauschen da jeden Tag durch«, sagt Pratt. »Ich bin um zwei Uhr früh an der Autobahn gestanden und selbst da würde ich sie nicht überqueren wollen.«
Wie sollen die Tiere die Wildtierbrücke finden, wenn sie dann irgendwann fertig ist? »Wir stellen Hinweisschilder auf«, scherzt Pratt
Kalifornien ist der einzige US-Staat, der die Jagd auf Berglöwen verboten hat – dank einer Initiative, die William Newsom, Vater des aktuellen Gouverneurs Gavon Newsom, vor 30 Jahren startete. Die meisten Stadtbewohner nehmen die Nähe der großen Raubtiere mit erstaunlicher Gelassenheit hin, oft sogar mit Begeisterung. »Ich bekomme fast jeden Tag Textnachrichten und Videos von Sichtungen«, erzählt Pratt. P-22 wurde jüngst dabei gefilmt, wie er eine ahnungslose Frau im Morgengrauen überraschte. Er sprang vor Sonnenaufgang über ihren Gartenzaun in Beachwood Canyon, spazierte über ihre Terasse und inspizierte dann den Grill. Selbst wenn P-22 einen Pudel zum Abendessen fängt, wie im Stadtteil Glendale geschehen, gibt ihn die Stadt nicht zum Abschuss frei. »Das ist ein Risiko, mit dem die Leute hier leben müssen«, kommentierte die zuständige Behörde, das California Department of Fish and Wildlife Bureau. Als P-22 vor acht Jahren beinahe an Rattengift starb, verbot die Stadt den Anwohnern, die Gifte weiter zu benutzen.
Aber wie sollen die Tiere die Wildtierbrücke finden, wenn sie dann irgendwann fertig ist? »Wir stellen Hinweisschilder auf«, scherzt Pratt, bevor sie wieder ernst wird. »Der Liberty Canyon ist wie ein natürlicher Trichter, der die Optionen bis auf die letzten 500 Meter einschränkt.« Aus den Daten der mit GPS-Halsbändern ausgestatteten Berglöwen wissen Pratt und Vickers, dass viele an genau die Stelle kommen, wo die Brücke gebaut werden soll, »aber dann wieder umkehren, weil sie nicht rüberkommen.« Natürlich wird die Überführung auch weniger wie eine Brücke aussehen, sondern eher wie ein 50 Meter breiter Park, der mit Pflanzen und Bäumen begrünt ist, um den Lärm und die Autolichter auszublenden.
P-22 ist das prominenteste Gesicht der #SaveLACougars-Kampagne, aber die Brücke ist nicht nur für ihn. »Das ganze Ökosystem der Santa Monica Berge wurde abgeschnitten«, sagt Pratt. »Man denkt vielleicht nicht an Schmetterlinge oder Frösche oder Pflanzen, aber sie alle werden von der Brücke profitieren.« Zehnspurige Autobahnen seien selbst für Vögel eine Herausforderung, erklärt Pratt, weil manche Vogelarten lieber über Vegetation fliegen als überbebautes Gebiet. Die Brücke diene also dazu, »das Leiden aller Tiere zu verringern, nicht nur der Berglöwen«.
Der Bau soll bis 2025 fertig sein. P-22 hat schon mal seine Instagram- und Facebook-Accounts (die von Pratt gemanagt werden) mit der Nachricht bestückt, dass er bald wieder für Dates zu haben sein wird. Seine Fans posten bereits Fotos mit attraktiven Junglöwinnen und der Frage, »Na, ist sie dein Typ?«. Hip Hop Star Warren hat ihm sogar ein Lied gewidmet, den »P-22 Song« mit dem Titel »On the move again«. Die neue Brücke könnte für den einsamen Löwen allerdings zu spät kommen. Berglöwen werden in der Wildnis selten älter als 15 Jahre und P-22 ist bereits 12. »Aber sein Junggesellendasein ist nicht vergeblich«, verspricht Pratt seinen Fans. »Er hat keine Ahnung, dass seine einsame Existenz eine ganze Bewegung inspiriert.«