Frau S. war jung, Anfang 20, und als sie uns sagte, sie werde das Kind nicht behalten, tat sie das mit einer Reife und sanften Klarheit, die mich überraschte.
Von Kindern, die nach der Geburt in Adoptiv- oder Pflegefamilien kommen, erfahren wir oft vorab, indem das Jugendamt ein Fax schickt und uns eine schwangere Frau ankündigt: Meist sind es Frauen mit schweren psychischen Erkrankungen oder Suchtkranke. In vielen Fällen gibt es bereits ein Geschwisterchen, das ebenfalls in Obhut genommen wurde.
Der Fall, dass eine Schwangere wie Frau S. spontan zu uns in die Geburtsstation kommt und uns sagt, dass sie ohne ihr Baby nach Hause gehen wird, ist der seltenere, kommt aber auch immer wieder vor.
Erst neulich hatten wir ein Romeo-und-Julia-Paar bei uns, beide knapp über 18. Die Eltern durften aus religiösen Gründen nichts von der Beziehung wissen. Wie die beiden die Schwangerschaft über so lange Zeit verheimlicht hatten, war mir ein Rätsel. Die junge Frau brachte ihr Baby bei uns im Rahmen einer vertraulichen Geburt zur Welt, das heißt unter anderem Namen – eine Möglichkeit, die Frauen in Not hierzulande haben - und gab es zur Adoption frei. Es war dramatisch, weil ihr Freund sie während der Geburt verließ und nach Hause ging, sein »Alibi« wäre sonst aufgeflogen. Die Frau weinte während der gesamten Zeit bitterlich.
Doch zurück zu Frau. S., die gefasst war und sich das alles sehr gut überlegt zu haben schien. Wir behielten sie gleich da, sie war schon einige Tage über Termin. Mit ihrer Sporttasche in der Hand begleitete ich sie zu ihrem Zimmer. »Was machen Sie eigentlich beruflich, Frau S.?«, fragte ich sie. »Ich bin Altenpflege-Helferin«, sagte sie, »noch in der Ausbildung«. Die CH-Laute verrieten einen leichten osteuropäischen Akzent. »Und macht das Spaß?«, fragte ich. »Ja, aber man verdient nicht viel, ich kann selbst kaum davon leben und ich habe keine Unterstützung, weil ich ganz alleine bin.« Ich schluckte.
Sie nahm ihre Pantoffeln mit Dalmatinern darauf aus der Tasche und stellte sie vor das Bett. »Was haben Sie da drauf?«, ich deutete auf den MP3-Player auf dem Beistelltisch. In ihrem runden, kindlichen Gesicht zeichnete sich zum ersten Mal ein Lächeln ab: »Shakira! Ich mag die, die macht so gute Laune.«
Es folgten die üblichen Untersuchungen, und als die Wehen am nächsten Tag immer noch nicht an Kraft gewannen, leiteten wir die Geburt ein. Normalerweise spreche ich unterdessen mit den werdenden Müttern über das Kind: Haben Sie schon einen Namen? Ist zuhause alles vorbereitet? Doch die Brücke, die sich sonst durch diese dritte, noch unsichtbare Person im Raum, bildet, diese Art von Zugang konnte hier nicht entstehen. Auch meine üblichen Sprüche und Wasserstandsmeldungen (»Unser kleiner Kumpel hier hat sich schon in Position gebracht«), Dinge, die andere Mütter und ihre Partner oft zum Schmunzeln bringen, kamen mir unangebracht vor. Genauso wie das Thema krampfhaft zu umschiffen. Ich fühlte mich hilflos.
Was redet man neun Stunden lang mit jemandem, der die Geburt einfach nur hinter sich bringen will? Ich erkundigte mich immer wieder nach ihr, wie es ihr gerade geht. Die Ausläufer jenes Erdbebens, das die Nachricht, schwanger zu sein, vor neun Monaten bei ihr ausgelöst hat, waren immer noch spürbar. Der Schock, die Zweifel und Unsicherheit, vielleicht auch die Trauer über die Situation mit dem Vater (der sie, wie sie irgendwann in diesen Stunden andeutete, verlassen hat); doch ich merkte auch: Sie hatte eine Entscheidung getroffen, die sie erleichtert hat. Adoption. Eine Entscheidung, die für sie unausweichlich war. Unendlich verantwortungsbewusst und selbstlos. Das Wohl ihres Kindes lag ihr so sehr am Herzen, dass sie es weggab.
Leider ging die Geburt nicht voran. Obwohl der Muttermund geöffnet war und sie starke Wehen hatte, kam das Kind nicht durch den Geburtskanal. Bitte kein Kaiserschnitt, dachte ich, als die Schädeldecke des Babys keinen Zentimeter tiefer vordrang. Bitte nicht! Und doch zeichnete sich genau das immer mehr ab, kurz vor meinem Schichtende wurde Frau S., schweißnass und sichtlich verausgabt, schließlich in den OP geschoben. Ich drückte ihre Hand. »Jetzt haben Sie es gleich geschafft.« Wie ätzend mussten die Schmerzen nach der OP sein, wenn man nicht einmal das Kind in der Hand hält, für das man all die Strapazen in Kauf genommen hat? Und auch noch eine Narbe zurückbehält als ewige Erinnerung? Das waren nur meine Gedanken, vielleicht empfindet sie es ja ganz anders – ich hoffte es.
Als ich am nächsten Tag wieder meinen Dienst antrat, war ihr Zimmer schon neu belegt. Man hatte Frau S. auf die allgemeine gynäkologische Station gebracht, das wird bei Adoptionen oft so gehandhabt, um die leiblichen Mütter im Nachhinein mit quäkenden Babys und glücklichen Eltern zu verschonen. Die Kollegin der Frühschicht erzählte, die Adoptiveltern seien direkt nach dem Kaiserschnitt da gewesen, um das Baby in Empfang zu nehmen – überglücklich ob der Nachricht.
Ich schaute noch mal bei Frau S. auf der Gyn. vorbei. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster, die Kopfhörer im Ohr, irgendwie gelöst, lag sie in ihrem Bett. »Wie geht es Ihnen?« – »Gut, aber noch etwas müde.« Ich fragte sie, ob sie das Kind nach der Geburt überhaupt gesehen habe. Sie schüttelte den Kopf. »Sonst hätte ich es nicht geschafft.« Ich nickte. Den Satz hatte auch die Romeo-und Julia-Frau gesagt. »Jetzt bin ich einfach nur froh, dass die Kleine in guten Händen ist.« – »Das ist sie bestimmt«, sagte ich. Dann blieb ich noch ein Weilchen an ihrem Bett sitzen.
Am selben Abend – ich kam gerade von der Schicht nach Hause – hatte ich eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter: »Hallo Frau Böhler, wir haben eine sehr kurzfristige Anfrage«, sprach da eine Frau aufgeregt aufs Band. »Wir sind heute zu einer Adoptivtochter gekommen. Wir standen lange auf der Warteliste, jetzt ging es so schnell! Könnten Sie vielleicht die Nachsorge übernehmen?« Ich drückte auf »Wiederholen«, denn ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.