Seit ein paar Monaten weiß ich, dass einer meiner Glaubenssätze auf einem Werbegag beruht. Das passt zwar ins Bild, hat mich aber dennoch überrascht. Die 10.000 Schritte, die man angeblich täglich machen soll, um länger und gesünder zu leben, hat 1964 ein japanischer Schrittzähler-Hersteller erfunden, um sein Gerät zu bewerben, den »Manpo-kei« (10.000-Schrittzähler). Ich hielt die 10.000 Schritte, bis ich das erfuhr, mit quasi-religiöser Hingabe für ein Naturgesetz, an das zu halten ich mich jeden Tag bemühte, bis hin zum relativ absurden Pro-Tipp, Teller und Besteck nach dem Essen einzeln in die Küche zu tragen wie ein vergesslicher Teenager.
Es fing damit an, dass auf meinem neuen Telefon ein Schrittzähler vorinstalliert war, nachdem ich mich jahrelang gegen Fitnessarmbänder gewehrt hatte: Wer wollte sich bei seinen kleinsten Bewegungen von einer Fitnessarmband-Firma überwachen lassen, ja wohl nicht ich! Ich wollte mich bei meinen kleinsten Bewegungen nur von einem Telefon-Firma überwachen lassen. Einschließlich des dadurch entstehenden Zwangs, das Telefon nun auch im Haus stets am Körper tragen zu müssen, um keinen Schritt ungezählt zu lassen. Der Schrittzähler war und ist ein kleiner Schritt für die Menschheit, und ein großer Schritt für mich. Er stimuliert mein Bedürfnis, alles richtig zu machen, und befriedigt meine Erwartung, nichts richtig machen zu können.
Wenige Alltagstätigkeiten außer Geschirrabräumen und Bekanntenzuwinken lassen sich mit Herumlaufen vereinbaren
Wobei eins, auch wenn die 10.000 Schritte unwissenschaftlicher Unfug sind, wahr ist: Bewegung ist besser als keine Bewegung. Dies wurde vor rund 70 Jahren bei einer Untersuchung der Londoner Transportbehörde festgestellt, als herauskam, dass auf die Dauer die Herzgesundheit der durch den Bus laufenden Schaffner*innen deutlicher besser ist als die der vorne im Bus sitzenden Busfahrer*innen. Nun wäre es ja aber schon schön, eine aktuellere Zahl zu haben, die ähnlich leicht zu merken ist wie die magische 10.000. Erleichterung schien eine US-amerikanische Studie zu verheißen, der zufolge es nach 7.500 Schritten eine Art Plateau-Effekt gibt, was die positiven Effekt des Herumlatschens betrifft: Man lebt, kurz gesagt, statistisch länger, so lange man 7.500 Schritte am Tag erreicht, ab da veränderte sich dann nicht mehr viel bei den von der Harvard-Wissenschaftlerin Dr. I-Min Lee und ihrem Team untersuchten Frauen.
Dies käme mir sehr entgegen, da 10.000 Schritte am Tag recht lange dauern; und wenige Alltagstätigkeiten außer Geschirrabräumen und Bekanntenzuwinken lassen sich mit Herumlaufen vereinbaren: Für 10.000 Schritte brauche ich etwa eine Stunde und vierzig Minuten, für 7.500 nur eine gute Stunde (sagt das Telefon). Gerade, als ich dabei bin, mein Tagesziel in der App auf 7.500 zu senken und mich zu freuen, dass ich in der gewonnenen Zeit wieder Kontakt zu meiner Familie aufnehmen kann, lese ich über eine neue Studie der Universität Warwick, an der über längere Zeit Briefträger*innen untersucht wurden. Um es ohne Umwege gleich zu sagen: Das Ergebnis ist, dass man im Sinne der Lang- und Gutlebigkeit am besten 15.000 Schritte am Tag machen sollte
Die New York Times zitiert Dr. William Tigbe vom Studien-Team, mit dem Zugeständnis, 15.000 Schritte täglich bräuchten schon eine gewisse »Anstrengung«, aber wir könnten diese Zahl erreichen, indem wir zwei Stunden am Tag flott ausschreiten: Dies könne man aufteilen, etwa in dreißig Minuten vor der Arbeit, dreißig in der Mittagspause, »und immer mal wieder zehn Minuten über den Tag verteilt«. Vielleicht sollte man den Tagesablauf von Gesundheitsforscher*innen an der Universität Warwick in Großbritannien untersuchen, er klingt wunderbar löchrig.
Das Naheliegende wäre, nun zu sagen: Guck mal, die einen sagen 15.000, die anderen 7.500, da bist du ja im Mittelwert wieder bei deinen geliebten 10.000, aber das wäre ebenfalls unwissenschaftlich, denn der Mittelwert wäre 11.250 (sagt das Telefon).
Bevor ich mich nun heute nach draußen begebe, wüsste ich zwar gern genau, für wie lange und wie viel. Geschickt hat es im vorigen Jahrzehnt die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt angestellt, die dazu aufrief, jeden Tag »3000 Schritte extra« zu gehen, aber extra wozu, damit war dann wieder jeder gehende Mensch allein. Ich merke, dass die Botschaft der Schrittzähler-Studien im Grunde ist: Man macht im Grunde immer den entscheidenden Schritt zu viel oder zu wenig, aber welcher das ist und wann, wird man nie erfahren.