Als ich 18 wurde, kaufte meine Mutter das Haus eines Bekannten, eines alten Ingenieurs, der in seiner Jugend ständig daran gewerkelt hatte. Aus dem Balkon wurde da ein Wintergarten, aus einem Kellerraum eine Sauna, ein Schuppen wurde abgerissen, ein Treppenhaus gebaut, es war wie sein kleines Lego-Projekt. Nach dem Tod seiner Frau vor mehr als 15 Jahren wurde dem alten Mann dann die Leere zu groß, aber nicht so groß, dass er sich leichtfertig vom Haus hätte trennen können – und von den Sachen darin, wie ich dann sah.
Den Sommer 2013 verbrachte ich damit, das Haus zu entrümpeln. Ich wühlte mich durch Nippes-Figuren, Gemüseschneider, Blumenteller, Fonduetöpfe, Kerzenhalter, alte Zeitschriften, winzig kleine Kaffeemaschinen mit winzig kleinen Filtern. Und irgendwann fand ich ihn, den Raum. Ich stieß die Tür auf, viel Staub, viel Spinnweben, Indiana Jones würde jetzt seinen Hut festhalten, und bestaunte im flackernden Licht der Glühbirne die sechzig Flaschen in einem Weinregal. Die Siebzigerjahre, die Achtziger, bei einigen zerbröselte bereits das Etikett. Vorsichtig, als stecke dahinter eine Giftfalle, nahm ich einen Rotwein, der älter war als ich. Wir probierten einen Schluck. Verkorkt. Wütend und meines Sommers beraubt wollte ich den ganzen Krempel wegschmeißen, der Rest war ja sicher auch schon schlecht. Meine Mutter wollte das Zeug behalten, ERST MAL! Vielleicht seien ja ein paar Kostbarkeiten dabei?
Zehn Jahre ist das jetzt her. Seitdem steigt zu Weihnachten der Blutdruck, wenn ich Gemüse mit dem Gemüseschneider schneiden und Essen auf einem Blumenteller servieren soll. Den Wein hat sie natürlich auch immer noch. Weil sie selbst selten trinkt, hat meine Mutter einige verstaubte Flaschen an ausgewählte Freunde verschenkt. Aber zur Feier des Tages holt sie immer einen neuen alten Wein raus und sagt, vielleicht ist der ja gut! Es ist ein bisschen wie Russisches Roulette, nur dass es statt einer schnellen Kugel zäh-quälende Kopfschmerzen gibt.
Meine Mutter wuchs in Zeiten auf, als man eher reparierte als wegwarf. Ich bin anders
Wir streiten uns oft übers Wegschmeißen und Behalten. So wie letztens. »Gott, Mama, du bist so ein Messi!«, rufe ich. »So ein Quatsch, Messi heißt, wenn man Schrott unbedingt behält«, donnert sie zurück und befiehlt mir, die Suppe in den Fonduetopf zu füllen, den ich vor zehn Jahren ausgegraben habe. Ich kann die Frau nicht verstehen. Als ich ein Kind war, hat sie meine Oma immer angemault, weil Oma alte Plastiktüten aufhob. Vielleicht hat Mutter diese Marotte ja von ihr, auch wenn (oder gerade weil?) sie sich geschworen hat, nie so zu werden wie sie. Meine Mutter wuchs in Zeiten auf, als man eher reparierte als wegwarf. Ich bin anders. Vielleicht klammert sich der Drang zu behalten ja an die Angst zu verlieren. Vielleicht geht es auch um Wertschätzung, um die Erinnerung, die man ehrt. Für irgendwen war das eben nicht nur Zeug, sondern Leben.
Ein paar Flaschen sind noch übrig. Ein Riesling, Jahrgang 1970, »Hattenheimer Hassel«, eigene Abfüllung. Ich stelle mir vor, wie der alte Mann noch ein junger Mann war. Wie er seine beste Schlaghose anzog, um die Liebe seines Lebens abzuholen zu einem Picknick, Brot, Aufschnitt, Weißwein, und die beiden reden über Brandts Kniefall oder über die verpatzte Apollo-13-Mission oder ob es noch was wird mit der Annäherung von Ost und West, und wenn nicht – dann ja wenigstens mit uns, vielleicht? Wie sie das Brot und den Aufschnitt aufessen, den Riesling aber nicht entkorken, sondern beim Wasser bleiben und die flüsternde Abmachung treffen: Und wenn wir die Flasche aufheben, bis wir schrumpelig sind, und dann darauf anstoßen, dass wir es geschafft haben? Wie sie die Flasche und den Traum im Regal verschließen, bis beides vergessen und die Frau fort war.
»Mama?«, rufe ich. »Vielleicht probieren wir den noch, ja?«