»Die 16-jährige Tochter meines Lebensgefährten geht im Sommer regelmäßig sehr leicht bekleidet zur Schule. Gleichzeitig echauffiert sie sich bei uns über die Blicke und Kommentare anderer, die sie diesbezüglich bekommt. Wir lassen sie frei entscheiden, wie sie sich kleiden möchte, und doch ist die aktuelle Mode ein ständiges Diskussionsthema bei uns zu Hause. Einerseits verstehen wir ihren feministisch angehauchten Standpunkt, man solle doch die Söhne besser erziehen, statt die Töchter zu verhüllen. Andererseits können wir nachvollziehen, wenn sie oder andere Schülerinnen von LehrerInnen auf die kurze Kleidung kritisch angesprochen werden. Wo liegt die goldene Mitte?« Anonym, per Mail
Ich finde die heutige Mode auch wahnsinnig interessant. In meinem ganzen Leben habe ich, glaube ich, noch nicht so viele nackte Taillen und Bauchnabel gesehen wie in den vergangenen paar Monaten, und das nicht am Strand, sondern mitten in Berlin. Noch ist der Anblick so unerwartet, dass man am liebsten hinstarren würde. Neugierig, fröhlich und indifferent. Aber man ist ja erzogen und zügelt sich also, was kein Problem darstellt, aus Sich-Zügeln besteht ja jedes normale Erwachsenenleben zu bestimmt 80 Prozent.
Ich weiß jedenfalls genau, von welcher Mode Sie sprechen. Und finde, das Argument, es müssten einfach die Söhne besser erzogen werden, greift hier zu kurz. Nicht jeder Blick ist lüstern, nicht jeder Kommentar eine Anzüglichkeit. Der Mensch ist als biologisches Wesen darauf geprägt, Spuren zu lesen und Abweichungen von der Norm zu entdecken. Und so verfangen sich aktuell alle möglichen Blicke an der neuen Silhouette, die Dinge freilegt, die bis vor Kurzem verborgen waren, zumal im öffentlichen Nahverkehr. Manche stört das, ästhetisch, manche bringt es hormonell kurz aus dem Konzept, wieder andere machen sich Sorgen. Müssen sie durch. Die Tochter Ihres Lebensgefährten ficht gerade denselben Kampf aus wie einst die Beatles mit ihren unmöglichen Langhaarfrisuren oder Mary Quant vor 60 Jahren mit dem Minirock. Wenn die Mode so bleibt, guckt in zwei Sommern niemand mehr. In der Sauna ist man ja auch nach den ersten paar Besuchen aus dem Staunen wieder heraus.
Für die Gegenwart gilt: Wahrnehmen, wahrnehmen und sich dabei erwischen lassen, und wahrnehmen und kommentieren sind drei verschiedene Dinge. Letzteres ist inakzeptabel. Die goldene Mitte liegt hier zwischen Punkt eins und Punkt zwei, je näher an Punkt eins, desto besser. Und den leicht bekleideten jungen Frauen möchte man zurufen: Genießt euch, you only live once!