»Eines trüben Novembertags wurde ich in Öl gemalt, und das kam so …« Nein. »Am Nachmittag des zweiten Tages begann ich meinen rechten Arm zu hassen, der das Nilpferd hielt …« Auch nicht. Wie fängt man eine Geschichte an, in der man immer wie ein übler Poser daherkommt? Bis auf Altkanzler und die Kinder Neureicher wird heutzutage niemand mehr gemalt, und wenn, redet er nicht darüber. In Ööööl gemalt, wie das schon klingt! So eitel, so affig, so alles Mögliche und nichts davon gut.
Also, es war so: Das Handy klingelt, eine Berliner Malerin namens Martina Minette Dreier ist dran. Sie würde mich gern malen. Bitte was? Malen. Wieso? Nur so. Sie lese viel in Zeitschriften, und unter Artikeln, die ihr gefielen, habe sie »überproportional häufig«, wie sie sich ausdrückt, meinen Namen entdeckt. Sie arbeite gerade an einer Serie zum Thema Sehnsucht, da würde ich gut reinpassen. Liebe, Schönheit, Mode, diese ewigen Frauensehnsüchte, das sei doch mein Arbeitsfeld. Aha. Soso. Na ja. Ich könne kommen, wann ich wolle, anziehen, was ich möge, mich hinstellen, wie es mir passe.
Das ist natürlich ein Angebot, das man nicht ablehnen kann. (Wie ich später erfuhr, tun es doch einige: »Die hadern mit sich oder haben ein Unbehagen, sich selbst aus der Hand zu geben«, sagt Minette.) Also stehe ich an diesem Novembermorgen in einer angenehm dunklen Kreuzberger Altbauwohnung und drehe meine Seemannsmütze in den Händen, denn mit der möchte ich gemalt werden, es ist knapp vor meinem Aufbruch zu einem Weltreisejahr. Mit dem Thema Sehnsucht kann ich was anfangen, ich bin zum Platzen gefüllt damit. Nur worauf bezieht sich die? Auf das Wegwollen? Das Bleibenwollen? Das Hier, das Da? Wir reden ein bisschen, beide nervös.
»Ich habe noch nie jemanden gemalt, den ich vorher noch nicht gesehen hatte«, sagt sie. Ein Blind Date, oh Gott. Die Situation hat was seltsam Ungehöriges an sich. Wir robben uns an das Thema ihrer Bildserie heran wie zwei Leute, die sich auf Bütten zu einer Intimität verabredet haben. Sehnsucht ist ein Gefühl, das sich selbst genug ist, sage ich, Sehnsucht will keine Erfüllung. Nein, sagt sie, »Sehnsucht ist der Motor von allem. Sie ist ein Polarstern, aber mehr vage Ahnung als Lebensziel. Ein großes Seufzen. Sehnsucht ist, wenn man nicht weiß, wo man sich hinwünschen wollen könnte.« Sie ist gut mit Worten, das gefällt mir. Aber wie geht es jetzt weiter? Was will sie, was will ich? Erst mal einen Tee trinken. Und gucken, was sie sonst so gemalt hat.
In ihrem Bilderlager nebenan hängen oder stehen rund 150 Porträts. Sie malt Menschen in immer dem gleichen Format: ein mal ein Meter Leinwand, eine strenge Kiste, in die sie ihre Modelle hineinarrangiert. »Das Format ist herrlich absolut. Klassisch, mathematisch. Gleichzeitig ein Unformat für Porträts.« Für die Sehnsuchtsserie hat sie bislang rund zwanzig Leute gemalt, darunter drei Schauspieler, eine Fotografin, einen Berater für NGOs, zwei Performer, einen Maler, eine Angestellte aus dem Bio-Bereich. Wie sucht sie ihre Modelle aus? »Ich sehe etwas an Leuten, mit dem ich mich weiter beschäftigen möchte. Hier, Christoph Franken zum Beispiel, den habe ich am Deutschen Theater in einer Jürgen-Gosch-Inszenierung gesehen. Es gab einen Moment, in dem er furchtbar gedemütigt wurde, da zieht er aus seiner Hosentasche eine Tafel Schokolade und isst sie. Danach habe ich gefragt, ob ich ihn malen kann.«
Modellstehen gehört mit zum Therapeutischsten, was ich je gemacht habe
Wir beginnen mit Skizzen. Versuchen verschiedene Posen, stehend, sitzend. Aus einem Besenstiel und zwei Stühlen baut sie eine improvisierte Reling, über die ich mich lehne, später lege ich den Stiel über die Schulter. Sie denkt an christliche Ikonografie, ich an James Dean in Giganten. Irgendwann werfe ich ihr lilafarbenes Plüschnilpferd Elsie Büttner über die Schulter. Sie denkt an einen glamourösen Pelz, ich an einen Seesack, beide finden wir es gut. Das soll es werden. Sie holt die Leinwand, zeichnet in Kohle. Und ich stehe. Und stehe. Und stehe.
Modellstehen gehört mit zum Therapeutischsten, was ich je gemacht habe. Still stehen, und das Stunde um Stunde, immer wieder genau angeschaut werden, und zwar nicht nur das Gesicht, sondern Schlüsselbein, Ellenbogen, jeder einzelne Finger – das ist einerseits körperlich anstrengend, andererseits irrsinnig entspannend. Wie großartig, mal nicht zuständig zu sein, sondern mich abgeben zu können in fremde Hände. Mal nicht der Fragende und Beobachtende sein, sondern ein Objekt, Anschauungsmaterial, Lichtreflexionsoberfläche: Ich bin sehr da und gleichzeitig sehr weg, beschäftigt mit meinen eigenen Gedanken. Wie ich gucke, weiß ich längst nicht mehr, es ist mir auch egal. Nach einer Stunde fällt jede Maske, ganz anders als beim Fotografiertwerden, wo man verbissen versucht, irgendwie auszusehen. Minette arbeitet konzentriert, redet kaum, im Hintergrund läuft der Deutschlandfunk. Hin und wieder gucke ich ihr zu, wie sie mich anguckt, und überlege, was sie gerade sieht.
Dazwischen machen wir Teepausen in ihrem roten Salon, mittags gibt es Vollkornbrot mit selbst gemachtem Pflaumenmus aus Vaters Garten. Sie wird von keiner Galerie vertreten, kann aber trotzdem von der Kunst leben, sagt sie. Hin und wieder kauft jemand was, ein Freund eines Freundes, »ich friste mein Leben«. Einmal die Woche kocht sie für die Mannschaft des »Berghain«. Wir reden von Kreativität und Geld, dann stelle ich, die Schreibnutte, die ohne Geld keinen Strich aufs Papier machen würde, mich wieder hin vor sie, die malt, weil sie es will. Weil sie die Ölfarbe so gern riecht. Weil ihr gefällt, dass Kadmiumrot langsamer trocknet als Neapelgelb. Weil sie liebt, was sie tut. Und ich stehe da und denke nach.
Das geht zwei Tage so, schneller als normal, weil ich nur wenig Zeit habe. Sonst lässt sie die Leute vier-, fünfmal kommen, nur für die Figur. Die Details, den Hintergrund malt sie später, vielleicht auch erst nach Wochen. Mir schickt sie nach einem halben Jahr ein Foto des fertigen Bildes. Für den Hintergrund hat sie japanische Pflanzenmotive gewählt und ein angedeutetes Riesenrad, ihr waren Rummelplatzmotive in die Hände gefallen. Ich muss hell lachen, als ich es sehe: Zu dem Zeitpunkt bin ich schon einmal halb um die Welt gereist, das Radmotiv passt genau. Ein Leben in fliegenden Bauten, Fortbewegung aus eigener Kraft. Bin ich das also, da auf dem Bild? Merkwürdig, aber die Frage habe ich mir nie gestellt. Man vergleicht sich, natürlich. Die rechte Hand auf dem Bild ist meiner ähnlicher als das Gesicht meinem Gesicht, aber eine gewisse Melancholie, einen gewissen Trotz erkenne ich in beiden. Aber darum geht es ja nicht. Das Bild hat ein Eigenleben, damit mag jeder anfangen, was er will. Ob’s gut ist, weiß ich auch nicht, auch das ist mir egal. Und sogar, was jetzt damit passiert. Derzeit steht es in Minettes Lagerzimmer, neben all den anderen Bildern dieser Frau, die malt, weil sie malen will. Und ich? Ging nach zwei Tagen Stillstehen fort als Frau, die schreibt, weil sie schreiben will.