Die Stadt, der stille Star

Inspiration? Die suchen viele woanders. Aber dann landen sie doch alle hier: Denn Mailand ist der Ort, an dem aus Ideen Wirklichkeit wird.

In Mailand arbeiten alle in der Modebranche oder reden darüber«, sagt die Gucci-Designerin Frida Giannini. »Deswegen muss ich alle zwei Wochen raus. Hin und wieder will ich auch noch Menschen treffen, die nichts mit meinem Beruf zu tun haben.«

Giannini hat in Rom, London und Florenz gelebt, ehe sie nach Mailand zog. »Florenz, das sind für mich die Uffizien, die Renaissance. Ich bin glücklich, sechs Jahre in so einer Umgebung gelebt zu haben, aber die Stadt ist einfach zu klein für mich. In Rom sind die Menschen freier, fröhlicher, lockerer. Sie haben eine künstlerische Ader. Die Frauen ziehen sich kreativer an, nicht immer so stylish, so Montenapoleone« – eine Anspielung auf eine Straße in Mailands berühmtem Quadrilatero d’Oro, dem Goldenen Viertel mit einer der weltweit höchsten Konzentrationen von Designer-Boutiquen. »Außerdem ist in Rom immer etwas los. Man fühlt sich nicht alleine. In Mailand dagegen werden um acht Uhr abends die Bürgersteige hochgeklappt.«

Es stimmt: Rom hat die chaotische Pracht einer imperialen Stadt, in Florenz kann man der Renaissance nahekommen, Venedig ist getränkt von melancholischer Romantik. Gegen das Arsenal dieser Waffen scheint Mailand einen schweren Stand zu haben. Und dennoch hat mich die Stadt in den dreißig Jahren, in denen ich regelmäßig hierherkomme, verführt – so sehr, dass ich nichts mehr übrig habe für das ewige Gejammere der Modemenschen. Zu deren Lieblingsbeschäftigungen gehört ohnehin, sich über die Orte zu beschweren, an denen sie ihrem Beruf nachgehen. New York, sagen sie, sei modisch reizlos, London viel zu teuer und Paris, nun ja, französisch. Den größten Missmut aber bekommt Mailand ab, als ob es dort so viel mehr zu bemäkeln gäbe als in anderen Metropolen. Kaum dass sie gelandet sind, zählen sie schon die Stunden, bis sie wieder weg dürfen. Mailand sei so grau, sagen sie immer. Richtig, Mailand ist eine sehr steinerne Stadt – aber langweilig, wie der Ausdruck zu implizieren scheint, ist es hier nicht.

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Denn das Grau Mailands ist eine schimmernde Farbe, wie das Seidenfutter in einem Anzug von Ermenegildo Zegna oder der Morgennebel über der Piazza del Duomo. Grau ist eine Farbe, die sehr raffiniert Aufmerksamkeit erheischt, eine Farbe voller Geheimnisse. Auf den ersten Blick lässt sie die Stadt reserviert, geradezu verschlossen wirken. Doch hinter ihren Fassaden liegen prächtige Innenhöfe und exquisite Gärten, von denen viele zu privaten Palazzi gehören. Kürzlich sah ich durch eine Hecke etwas Pinkfarbenes aufblitzen und traute meinen Augen kaum, als ich einen Schwarm Flamingos entdeckte, die sich in der Kälte aneinanderschmiegten.

Ähnlich ergeht es mir mit dem Rasenrechteck im Innenhof jenes brutalistischen Hauptquartiers, das der japanische Star-Architekt Tadao Ando für Giorgio
Armani entworfen hat: schroffer, dunkel polierter Beton, der das Gras, das er umschließt, wie den letzten grünen Flecken auf Erden wirken lässt. Oder mit dem Innenhof von »10 Corso Como«, einem Gartencafé mit Art-Nouveau-Anmutung. Es ist das Herz von Carla Sozzanis außergewöhnlichem Concept Store, dessen Grundidee – nämlich eine sorgfältig kuratierte Shopping-Umgebung zu schaffen – sich von hier über die ganze Welt ausgebreitet hat. Neben dem Café gibt es einen Mode- und Designstore, ein Restaurant, eine Galerie und einen Buchladen, in dem ich vor Erfindung des Internets fast alle literarischen, musikalischen oder visuellen Raritäten finden konnte, nach denen mir je der Sinn stand.

Das Gemeinsame dieser beiden Orte: Sie drängen sich dem Mailand-Besucher nicht auf, sondern liegen im Verborgenen. Und sie verkörpern Extreme. Das ist noch so eine Sache, auf die Grau sich gut versteht – es ist eine Farbe, die Extreme überbrücken kann. In Mailand kann man die Zukunft kennenlernen, jedenfalls, wie sie sich für die Welt der Designer darstellt, sich aber auch in der Vergangenheit suhlen. Während einer
Fashion Week war ich beispielsweise einmal zu einer Party eingeladen, die in Leonardo da Vincis ehemaligem Wohnhaus stattfand. Hier lebte er zu der Zeit, als er gegenüber in der Kirche Santa Maria delle Grazie das Abendmahl malte. Ich muss gestehen, dass ich in diesem Haus einen größeren Schauer empfand als in der Kirche vor Leonardos Meisterwerk.

In Mailand begegnet man der Geschichte häufig auf eine Weise, die Größe in Intimität einbettet. Das »Grand Hotel« etwa beherbergte Giuseppe Verdi immer dann, wenn er ganz in der Nähe an der Scala tätig war. Als er 1901 hier im Sterben lag, hatte man auf der Straße vor dem Hotel Stroh gestreut, damit ihm der Lärm der Kutschen und Pferdehufe nicht seine letzten Stunden auf Erden vergällte.

Ich bin ein paar Mal hier abgestiegen und kann deshalb sagen: Wahrscheinlich hat sich das »Grand Hotel« seit Verdis Tagen nicht groß verändert. Was die Scala betrifft: Mich elektrisiert das Wissen, dass Luchino Visconti an ihr zwei Opern mit Maria Callas inszeniert hat, 1955 die Traviata und zwei Jahre später Anna Bolena. Visconti war ein Aristokrat, der seinen Stammbaum bis zu seinem Namensvetter, dem allerersten Luchino zurückverfolgen konnte, dem Herrn von Mailand zwischen 1339 und 1349. Zugleich war er aber auch der Regisseur von Rocco und seine Brüder, dem letzten seiner neorealistischen Klassiker. Darin erzählte er die Geschichte von Süditalienern, die in Mailand ihr Glück versuchen, auf so opernhafte Weise, dass Verdi in ihm sicher einen Geistesverwandten erkannt hätte. Der aristokratische Kommunist scheint ohnehin ein genuin mailändischer Charakter zu sein. Auch Miuccia Prada, deren Großvater ein Vermögen mit einem Lederwarenunternehmen gemacht hatte, war in jungen Jahren Mitglied der kommunistischen Partei und marschierte bei ihren Demonstrationen mit, gekleidet in Yves Saint Laurent.


»An Mailand mag ich am liebsten, dass man hier die Gelegenheit bekommt seine Ideen zu verwirklichen«

Ich zweifle nicht daran, dass man in jeder Stadt faszinierende Kontraste finden kann. Was mich an Mailand so in den Bann schlägt, ist der Umstand, dass hier überlebensgroße Persönlichkeiten mit ebenso großen Geschichten aufeinandertreffen. Wenn ich in Rom bin, habe ich keine Probleme damit, mir Caravaggio und Michelangelo, Fellini und Magnani bei ihren Alltagsgeschäften auszumalen. In Mailand aber habe ich andere Bilder: Leonardo, wie er die Navigli entwirft, das Kanalsystem der Stadt (der Mann ist so außergewöhnlich, dass er mich fast an die Existenz von Außerirdischen glauben lässt), oder – einer der schaurigeren Momente der Mailänder Geschichte – Mussolini und seine Geliebte, deren Leichen kopfüber auf der Piazzale Loreto aufgeknüpft wurden. Vor der Geschichte gibt es kein Entkommen: Als ich zum ersten Mal im »Bice« aß, einem bei Modemenschen sehr beliebten Restaurant, zeigte mir jemand eine kleine alte Dame und sagte: »Sie war der einzige Mensch, von dem Mussolini bedient werden wollte.«

Vielleicht war in jenen Tagen im »Bice« das Essen besser. Oder die sonst so empfindliche Modewelt hat einen blinden Fleck, sobald es um italienische Küche geht. Denn obwohl ich mich an viele spektakuläre und anregende Abendessen in kleinen Restaurants erinnern kann, würde ich jederzeit zugeben, dass man in Mailand schlechter isst als in südlicheren Regionen Italiens. Ich glaube, es liegt daran, dass Mailand seit jeher ein Problem damit hat, sich als italienische Stadt zu verstehen, und sich zu sehr mit etwas ausgesprochen Unitalienischem – dem Österreichischen – eingelassen hat. Mit ihren Straßenbahnen und ihrer behäbigen Architektur ist die Stadt mindestens so sehr Mittel-europa wie Italien, auf den Speisekarten taucht das Wiener Schnitzel als »Cotoletta alla Milanese« auf. Der Designer Neil Barrett schwört, dass man das allerbeste in der »Trattoria del Nuovo Macello« bekommt, aber was mich betrifft, hat paniertes Kalbfleisch kaum etwas mit dem Segen zu tun, den man sich von mediterraner Küche verspricht.

Neil ist ein alter Freund aus London. Dort gehörte er in den Achtzigern zu einer pulsierenden Szene von Kunst- und Modestudenten, heute ist er Angelpunkt einer neuen Designer-Generation in Mailand. Allerdings verwende ich das Wort »neu« nur zögerlich, weil Mailand kein besonders großes Geschick hat, mit jungen Modetalenten umzugehen, ganz im Unterschied zu London, einer Stadt im Zustand permanenter Gärung. »An Mailand mag ich am liebsten«, sagt er, »dass man hier die Gelegenheit bekommt, seine Ideen zu verwirklichen. Die Stadt ist ja regelrecht umzingelt von fantastischen Handwerkern, die seit Jahrhunderten darauf spezialisiert sind, Luxus in allerbester Qualität herzustellen.«

In dieser Hinsicht tut es Mailand gut, in der Mitte zu liegen, und auch sonst werden Menschen nicht müde, die geografischen Vorzüge der Stadt zu preisen. »Es ist hier zwar nicht ideal für Kinder«, sagt etwa Noona Smith-Petersen, eine in der Modewelt legendäre PR-Frau, »aber wir fahren jedes Wochenende raus. Alles ist so nah: Portofino im Sommer, St. Moritz im Winter, für den Rest des Jahres die Landschaft um Piacenza. Ich glaube nicht, dass irgendeine andere Großstadt so viele Attraktionen ganz in der Nähe bietet.«

Derlei leicht vergiftete Komplimente bekommt man über Mailand häufiger zu hören. Neil Barrett schlägt in eine ähnliche Kerbe, wenn er sagt: »Eigentlich sollte man erwarten dürfen, dass sich die Modebranche in der größten und wichtigsten Stadt eines Landes ansiedelt, also in Rom. So wie in London, New York oder Paris. In Italien ist es leider nicht so.« Ach Neil, will man ihm zuseufzen, du hast ja recht, aber immerhin handelt es sich um die zweitgrößte Stadt, mit 1,3 Millionen Einwohnern und 3,1 Millionen Menschen in der Provinz.

»In Mailand findet man keine Inspiration«, behauptet Neil Barrett, »die holt man sich, indem man durch die Welt reist. Mailand ist der Ort, an dem aus diesen Ideen dann Wirklichkeit wird.« Anders ausgedrückt: Mailand ist eine funktionale Stadt. Das klingt tatsächlich sehr grau – wenn Mailand nicht so viel eigensinnige, exzentrische Kreativität hinter seinen steinernen Fassaden beherbergen würde.

Bei meinem ersten Besuch vor vielen Jahren lernte ich einen Mann namens Franco Maria Ricci kennen, dessen Verlag seltene, wertvolle und schöne Bücher zu sehr entlegenen Themen veröffentlichte. Wie Visconti war er einer der Aristokraten, die ihr eigenes Vermögen darauf verwandten, die Welt mit Schönheit zu bereichern. Doch woran ich mich am lebhaftesten erinnere, ist die große rote Rose, die er im Knopfloch trug – ich hätte schwören können, dass sie aus Plastik war.

Ricci ist mir immer als eine Art Goldstandard bewundernswerter Eigentümlichkeit erschienen. Seither habe ich in Mailand noch viele andere verwandte Seelen kennengelernt. Den Designer Antonio Marras zum Beispiel, einen Sarden mit einem Fluidum von zeitloser Boheme. Neulich hat er sein Atelier in der Via Cola di Rienzo um einen Shop erweitert, und wenn man ihn dort besucht, fühlt man sich, als wäre man in eine Mode-Version von Being John Malkovich verschlagen worden, als befände man sich – umgeben von all den Büchern, Bildern und Objekten, die ihn stimulieren – direkt im Gehirn des Designers. Ähnlich verhält es sich mit Max Bernadinis eindrucksvoller Sammlung von Gentleman-Luxusgütern: Die alten Uhren, Flachmänner, Feuerzeuge, Aktentaschen und Koffer sind Relikte eines lange versunkenen Zeitalters der Eleganz, passen unter Bernadinis sorgsamer Pflege dennoch perfekt auch ins 21. Jahrhundert.

Ein Leben, das so gut gelebt und auch in den winzigsten Einzelheiten so stilsicher gehegt wird, ist ein bewundernswertes Unterfangen, für das man in Mailand viele Beispiele findet. Ich kann es verstehen, dass die gute Noona die Stadt gern ein wenig internationaler hätte, aber vielleicht besteht Mailands Stärke darin, dass es eine Stadt zuerst und vor allem für die Mailänder ist. Sie sind die Menschen, denen ich gern zusehe, wenn sie durch das Quadrilatero d’Oro flanieren oder sich in den Bars und Restaurants einfinden. Sie bilden eine Gesellschaft, die ihren Namen wahrhaft verdient hat.

(Fotos: Reuters; dpa)