Name: Alicia Rodriguez Alvisa
Geboren: 1995 in Kuba
Wohnort: Boston, USA und Havanna, Kuba
Ausbildung: Bildende Kunst, Tufts University, Boston
Projekte: You Are There, Are you there?, There You Are und You Are Here
SZ-Magazin: Was hat Sie zu diesem Projekt bewegt?
Alicia Rodriguez Alvisa: Ich hatte schon immer eine gestörte Selbstwahrnehmung und Probleme mit meinem eigenen Körper. Jedes Mal, wenn ich eine solche Krise hatte, wollte ich einfach nur allein sein und darüber nachdenken, woher diese Probleme kommen. Mir war bewusst, dass es einen Zwiespalt in mir gibt: eine Alicia, die sich von diesen Problemen befreien will, und eine Alicia, die das für unmöglich hält. Durch das Projekt wollte ich die Beziehung zwischen den beiden Teilen meiner Persönlichkeit analysieren. Es hat mir wirklich geholfen, über die Probleme hinwegzukommen, mit denen ich zu kämpfen hatte.
Wie sah diese Hilfe aus?
Eine der beiden Alicias auf den Fotos ist fast immer nackt. Das war die größte Herausforderung für mich, so etwas habe ich vorher noch nie gemacht. Aber dadurch habe ich angefangen, meinen Körper zu akzeptieren. Je mehr ich vor der Kamera stand, desto freier habe ich mich gefühlt. Ich habe gelernt, mich selbst zu lieben. Andererseits geht es in der Fotostrecke nicht nur um mich, es geht um jeden, dem jemals ähnliche Probleme hatte. Und ich habe wunderbares Feedback erhalten.
Was für eine Beziehung besteht zwischen den beiden Alicias?
Am Anfang war es ein Kampf zwischen der Alicia, die sich falsch, schlecht und schwach fühlte, und der starken, selbstbewussten, sicheren Alicia – der ohne Klamotten. Das war die Alicia, die ich immer sein wollte. Sie war selbstbewusst genug, um sich auf diese Weise vor der Kamera zu präsentieren und der anderen Alicia beizubringen, dass es in Ordnung ist, ihre Verletzlichkeit offen zu zeigen.
Und welche Entwicklung haben die beiden Alicias bisher gemacht?
Im Verlauf des Projekts haben die Alicias angefangen, miteinander zu verschmelzen, ihre Persönlichkeiten haben sich vermischt, das hat mir gut gefallen. Die Vorstellung, dass keine von ihnen die »echte Alicia« ist. Im echten Leben ist die schwache Alicia definitiv stärker geworden. Es wurde viel über mein Projekt gesprochen und geschrieben, das hat mir Selbstvertrauen gegeben. Doch auch wenn die beiden sich jetzt gerade sehr nahe stehen, kann es sein, dass sie sich zu einem anderen Zeitpunkt in meinem Leben wieder voneinander entfernen. Diesen Prozess will ich dokumentieren, deshalb ist das Projekt fortlaufend.
Hat dieses neue Selbstvertrauen Ihr Leben verändert?
Ich habe mich bewusst dafür entschieden, body-positive zu sein. Ich spreche auf Social Media über das Thema und ich bin Personal Trainerin. Dadurch versuche ich, anderen dabei zu helfen, mit ihren Unsicherheiten umzugehen und ihnen eine Stimme zu geben. Aber mir ist bewusst, dass die alten Gedanken immer zurückkommen können.
Wie kommt es Ihrer Meinung nach zu solchen Störungen der Selbstwahrnehmung?
Ich glaube, das liegt daran, dass unsere Gesellschaft darauf ausgerichtet ist, zu verunsichern. Die komplette Industrie lebt von den Unsicherheiten der Menschen. Es geht immer um diese sogenannte Perfektion. Heute passiert das vor allem auf Social Media, Teenager müssen sich mit der ganzen Welt vergleichen. Ich bin in Kuba aufgewachsen. Damals gab es kein Internet, ich hatte keinen Zugang zu all den internationalen Zeitschriften. Es war wie in einer Blase.
Aber es hat Sie trotzdem erwischt.
Es gehört zur kubanischen Kultur, so gut auszusehen wie möglich. Es gibt ein Ritual – Quinceañera –, bei dem gefeiert wird, wenn Mädchen in der Pubertät zur Frau werden. Die Mädchen ziehen sich dann an wie Prinzessinnen und werden fotografiert wie Models. Es geht nur darum, perfekt auszusehen. Und das wird aus irgendeinem Grund damit gleichgesetzt, dünn zu sein. Das ist wirklich krank. Ich würde sagen, meine Probleme kommen davon, dass ich in der Schule viel gemobbt wurde. Ich war schon immer dicker als die anderen Mädchen. Dieses Thema war ununterbrochen in meinem Kopf. Dadurch wurde es zu einem ernsthaften Problem und schließlich zu einem Trauma.
Was würden Sie ihrem 16-jährigen Ich sagen, wenn Sie könnten?
Das gleiche, was meine Mutter mir immer gesagt hat: »Du bist perfekt, genau so wie du bist, konzentriere dich auf andere Dinge als deinen Körper, und hör auf, das sein zu wollen, was als perfekt gilt.« Aber heute bereue ich es nicht, das durchlebt zu haben. Es hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin, und ich kann andere durch meine Erfahrungen inspirieren.
Haben Sie auch negatives Feedback bekommen?
Für diese Serie nie, nein. Aber ich liebe es, wie unterschiedlich Menschen meine Arbeit interpretieren. Bei meiner letzten Ausstellung hat eine Frau zu mir gesagt »Ich liebe diese Fotos der lesbischen Frauen«, und das fand ich toll. Solange die Reaktionen Akzeptanz, Liebe, Frieden und Stärke verbreiten, ist das okay für mich.