»Den Menschen, die geflohen sind, ist nicht klar, was auf sie wartet«

Wie hat Corona die Seenotrettung im Mittelmeer verändert? Laila Sieber war als Fotografin auf der »Sea-Watch 3« dabei – der ersten Rettungsaktion seit Ausbruch der Pandemie.

Name: Laila Sieber
Geburtsjahr: 1989
Wohnort: Hannover
Ausbildung: Audiovisuelle Medien an der Hochschule der Medien in Stuttgart, Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover
Website: lailasieber.de

SZ–Magazin: Frau Sieber, Sie waren bei einer Seenotrettung auf der Sea-Watch 3 als Fotografin an Bord. Wie sind Sie dazu gekommen?
Laila Sieber: Ein Freund, der sich für die private Seenotrettung engagiert, hat mir erzählt, dass für die Mission der Sea-Watch 3 noch eine Medienbeauftragte gesucht wird, die den Einsatz auch fotografisch dokumentiert. Wegen Corona ist mein Praktikum bei einem Fotografen-Paar ausgefallen und ich hatte Zeit. Ich habe mich gemeldet, die Zusage bekommen, doch es war noch nicht klar, wann es losgehen sollte. Erst hieß es innerhalb der nächsten zwei Monate. Es ging dann doch schneller und schon zwei Wochen später bin ich nach Sizilien geflogen. Das war Mitte Mai. Es war die erste Sea-Watch-Mission, nachdem Corona auch in Europa ausgebrochen ist.

Was bedeutete Corona für den Einsatz: Welche zusätzlichen Vorsichtsmaßnahmen wurden getroffen?
In Italien musste ich erst zwei Wochen in Quarantäne. Mit mir sind etwa zwölf andere angekommen und wir sind in unterschiedlichen Wohnungen untergebracht worden, damit wir nicht alle am gleichen Ort sind, falls doch eine Person infiziert sein sollte. Erst nach der Quarantäne konnten wir einen Corona-Test machen und mit dem negativen Testergebnis haben wir die Mission gestartet. Insgesamt war ich vierzig Tage auf dem Schiff, nur die Hälfte der Zeit auf See. Zum Schluss war ich zusammen mit den anderen Crew-Mitgliedern noch zwei Wochen auf Anker vor Sizilien in Quarantäne.

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Wie haben Sie sich vorbereitet?
Es gab relativ viele Meetings und Trainings, darunter ein Erste-Hilfe-Kurs und was man tun soll, wenn auf dem Schiff Feuer ausbrechen sollte oder jemand während der Rettung ins Wasser fällt. Außerdem ein Training wie wir unsere Covid-19-Schutzkleidung richtig an- und ausziehen. Ich hatte eine FFP-2-Maske, einen Overall, der meinen ganzen Körper bedeckt hat, und Sicherheitsschuhe. Zusätzlich hatten wir noch Haartücher, Sicherheitsbrillen und Handschuhe – für potentielle Risikokontakte.

Und emotional?
Es ist wichtig, informiert und mit der Thematik vertraut zu sein. In diesem Jahr kamen bis September 55 000 Personen über das Mittelmeer in Europa an. Mindestens 500 sind dabei traurigerweise ums Leben gekommen. Laut der UNO ist das Mittelmeer die tödlichste Route der Welt. Die Menschen kommen aus unhaltbaren Zuständen, aus Folter, aus dem Krieg. Ich glaube nicht, dass man sich emotional auf alles vorbereiten kann. Auf unserer Mission haben wir innerhalb von 48 Stunden drei Boote in Seenot entdeckt und insgesamt 211 Menschen gerettet.

Wie verlaufen die Rettungen?
An Bord sind wir in Schichten eingeteilt, so dass immer jemand patrouilliert und mit dem Fernglas den Horizont absucht. Damit habe ich um vier Uhr morgens angefangen, an dem Tag, als wir das erste Boot entdeckt haben. Drei Stunden später haben wir gesehen, dass sich etwas bewegt, es hätte auch eine Welle sein können. Als wir näher kamen, habe ich das Schlauchboot entdecken können, die Menschen darauf. Es waren mehr als neunzig.

Was passiert, wenn Sie ein Boot entdeckt haben?
Wir haben zwei Schnellboote, mit denen wir uns erstmal nähern. Die Sea-Watch 3 ist zu groß, 55 Meter lang, sehr nah Hinfahren würde eine zu große Gefahr bedeuten, dass jemand ins Wasser fällt und außerdem ist das Schiff langsamer als die Schnellboote. Bei der Rettung zählt jede Minute. Auf beiden Booten sind üblicherweise ein Fahrer oder eine Fahrerin, ein Arzt oder eine Ärztin, ein Kommunikator oder eine Kommunikatorin und ein Journalist oder eine Journalistin. Wir haben uns dem Boot genähert und gewunken, um zu signalisieren, dass wir helfen wollen. Als Allererstes verteilten wir Rettungswesten. Denn die Menschen haben oft gar keine an. Dann haben wir die Menschen zum Schiff gebracht, etwa 15 passten zusätzlich zu uns auf ein Schnellboot. Erst die Frauen und Kinder, dann die Männer.

Bleibt da Zeit zum Fotografieren?
Bei der dritten Rettung war ein starker Wellengang, außerdem war es dunkel und deswegen sehr schwer, Fotos zu machen. Ich finde die Dokumentation wichtig, weil sie eine Art Zeugenschaft ist. Die Bilder sind der Beweis, dass es so passiert ist. Trotzdem halte ich meine Kamera nicht einfach drauf, sondern kläre vorher ab, ob Fotos okay sind. In dieser Extremsituation, auf dem wackligen Schnellboot, war das natürlich nicht möglich. An Bord habe ich aber immer gefragt, einige Überlebende wollten gerne fotografiert werden. Auf dieser Mission sind mir viele starke Persönlichkeiten begegnet. Ich finde es wichtig, nicht ausschließlich über die Menschen zu sprechen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, für sich selbst zu sprechen.

Und auf dem Schiff?
Die Crew verteilt erstmal Decken, Masken und Essen, aber kein tolles Essen, sondern Notnahrung. Das sind Riegel, die viele Vitamine und Nährstoffe haben. Die Menschen haben oft schon eine längere Reise hinter sich, sie sind dehydriert und schwach. Auf der Krankenstation werden sie medizinisch versorgt. Eine Frau war hochschwanger, im achten oder neunten Monat, das Baby hätte jeden Moment kommen können. Wir haben die Menschen registriert, Fieber gemessen und versucht die zu isolieren, die symptomatisch waren.

Befanden sich Corona-Infizierte an Bord?
Als wir den sicheren Hafen in Sizilien angefahren haben, wurden die Geretteten mit Bussen abgeholt und etwa hundert Meter gefahren, um auf eine Fähre in Quarantäne zu gehen. Dort wurden sie auf Covid-19 getestet. Aus den italienischen Medien habe ich erfahren, dass es 28 Corona-Fälle innerhalb unserer Mission gab. Die Behörden kommunizieren fast nicht mit uns. Das ist Teil der Politik, die Seenotrettung versucht zu unterbinden.

Inwiefern?
Die Schiffe werden festgesetzt und dürfen vorerst nicht mehr auslaufen. Betroffen sind aktuell zum Beispiel die Sea-Watch 3, die Sea-Watch 4 und die Louise Michel, das Schiff, das von Streetart-Künstler Banksy finanziert wurde. Es sind fadenscheinige Gründe, weswegen die Schiffe nicht mehr auf See dürfen, wie zu viele Rettungswesten an Bord zu haben. Dafür gibt es keine Vorschriften. Es ist ein schwer zu begreifen, dass in Kauf zu genommen wird, dass dadurch mehr Menschen ertrinken. Die NGOs übernehmen hier eine Aufgabe, die eigentlich von Regierungen erfüllt werden müsste. Es kann nicht sein, dass ein gescheitertes System innerhalb der EU auf dem Rücken derer ausgetragen wird, die am meisten verletzlich sind.

Hat sich die Stimmung bei den Geflüchteten seit dem Brand in Moria verändert? Die Bilder von den schrecklichen Zuständen gingen um die Welt.
Die Seenotrettung und das Lager Moria auf Lesbos, wo die Menschen seit Jahren ohne ausreichende Grundversorgung festsitzen, sind komplett verschiedene Situationen. Die Politik dahinter ist jedoch die gleiche. Ich denke nicht, dass den Menschen, die gerade übers Mittelmeer geflohen sind, wirklich klar ist, was auf sie wartet. Dass manche zurückgeschickt werden oder andere jahrelang auf ihren Asylantrag warten müssen, währenddessen sie weder arbeiten dürfen, noch sich frei bewegen können. Was aber alle auf der Flucht riskieren müssen, ist ihr Leben. Und solange die Seenotrettung weiterhin kriminalisiert wird, trägt die europäische Politik eine Mitschuld daran, dass Menschen im Mittelmeer sterben.