Lob der Absage

Vom Elternabend bis zum Kaffeekränzchen werden derzeit aus Vorsicht Termine abgesagt. Für unsere Autorin liegt darin auch eine Befreiung.

Foto: Stockcam/istockphoto

Erst waren es die Messen: Handwerksmesse, Tourismusbörse, Buchmesse – gestrichen. Dann folgten größere Kulturveranstaltungen: die Architekturbiennale in Venedig, Tourneen internationaler Musiker, Theater- und Opernaufführungen. Als nächstes trifft es vielleicht die Olympischen Spiele. Überall bleiben derzeit die Konzerthallen leer, Umsätze fallen aus, Subunternehmer verlieren Aufträge, Taxis stehen ungenutzt herum. All das ist gesundheitspolitisch sinnvoll und wirtschaftlich fatal: Viele haben monatelang auf diese Events hingearbeit. Existenzen stehen auf dem Spiel.

Mittlerweile gibt es auch eine zweite Welle an Absagen, eine kleinere Welle, die vor allem den persönlichen Bereich betrifft: Es geht um Elternabende, Chorproben, Familienfeiern. Sogar Kaffeekränzchen werden abgesagt. Muss das wirklich immer eine schlechte Nachricht sein? Ich finde: Überall dort, wo nicht eine tatsächliche Krankheit oder eine bedrohte wirtschaftliche Existenz dahinter stehen, kann eine Absage auch das Herz zum Hüpfen bringen. Weil sie Entlastung schenkt. Weil sie ein befreiendes Loch in einen vollen Kalender reißt. 

Jeder kennt doch noch den Zauber, den ein sehr schneereicher Winter für Schulkinder bringen konnte: Ich erinnere mich an keinen Tag meiner Schulzeit so genau wie an diesen einen in Klasse acht, an dem eine Mathearbeit anstand. Als ich in die Schule kam, hatte sich vor dem Vertretungsplan schon eine Traube von Schülern gebildet. Dort hing ein Aushang, der märchenhafter schien als alles, was dort je verkündet worden war: Heute keine Schule, der Unterricht fällt aus! Schneefrei.

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Bis heute setzt es bei mir so viele Endorphine frei wie zu Schulzeiten, wenn Veranstaltungen, mit denen ich fix gerechnet habe, spontan abgesagt werden. Vielleicht sogar noch mehr als damals, denn mein Alltag ist inzwischen unglaublich viel vollgestopfter. Arbeit, Kinder, Hobbys, das Elterncafé in der Kita, der Networking-Event für den Job, die Theatervorstellung – immer ist irgendwas los. Haben wir verlernt, nein zu sagen? Leiden wir alle an der Angst, etwas zu verpassen? Mein Eindruck ist, dass es heute ganz normal ist, dass die Kalender aus allen Nähten platzen, wir aber ständig noch ein bisschen mehr reinstopfen – und den Terminen schließlich im Stechschritt hinterherrennen.

Ich lösche den Kalendereintrag und starre auf die leere Spalte. Sie sieht so aus, als wäre Neuschnee darauf gefallen. Weiß und unberührt

Nur ein aktuelles Beispiel aus meinem Alltag: An einem Freitagabend will ich eigentlich einen Abstecher von Berlin nach Leipzig machen, um mir eine Podiumsdiskussion anzuhören. Es geht um das Thema Psychogeographie, genau dazu arbeite ich gerade, es passt perfekt. Aber die Fahrt dahin wird das ganze System durcheinander bringen. Um alles zu schaffen, muss ich am Freitag ohne Pause durcharbeiten, die wichtigsten To Dos irgendwie bis zum Nachmittag erledigen, dann zum Bahnhof sprinten. Die Kinder sehe ich also gar nicht mehr, und wenn ich Samstagmittag zurück bin, ist mein Sohn schon wieder unterwegs. Keine Ahnung, ob die Veranstaltung überhaupt so gut wird, dass sich der ganze Aufwand lohnt.

Da kommt die Email: Abgesagt! Ich spüre, wie eine Welle der Erleichterung mich durchflutet. Also doch kein Megastresstag im Büro, kein Hektiktrip zum Bahnhof, kein zerfleddertes Wochenende. Der ganze Druck fällt mit einem Schlag von mir ab.

Ich lösche den Kalendereintrag und starre auf die leere Spalte. Sie sieht so aus, als wäre Neuschnee darauf gefallen. Weiß und unberührt. Gerade fühlte es sich noch so an, als würde die Zeit hinten und vorne nicht reichen, als würde ich in einem Meer aus To Dos ertrinken - und jetzt tut sich mit einem Mal dieser gigantische Freiraum auf.

Die Lücke im Kalender ist wie eine Wundertüte. Für einen Moment scheint alles möglich. Subversive Gedanken schießen mir durch den Kopf. Wie wäre es, wenn ich das mit der Absage einfach für mich behalte? Keiner rechnet jetzt mit mir, keiner erwartet irgendwas von mir. Ich könnte in der Kneipe versacken. Meine Freundin in Hamburg besuchen. Drei Romane lesen. Einmal spontan sein und aus allen Zwängen fliehen.

Andererseits könnte ich mich jetzt auch um all das kümmern, was schon ewig liegen geblieben ist: das Protokoll vom Elternabend, das kaputte Fahrradlicht, das Geschenk für die Nachbarin. Was für eine Erleichterung es wäre, diese Dinge endlich aus dem Kopf zu haben!

Sogar der Gedanke, mein ganz normales Pensum in Ruhe abzuarbeiten, wirkt auf einmal verführerisch. Alles entspannt zu erledigen statt mit roten Flecken am Hals, weil der Zug gleich fährt. Im Posteingang stapeln sich noch jede Menge ungelesene E-Mails, die könnte ich mir bei der Gelegenheit auch gleich vornehmen. Mal wieder alles im Griff zu haben, wäre ein großartiges Gefühl. Arbeitnehmer*innenluxus.

Mit jedem Tag, mit jeder Stunde fallen gerade immer mehr Termine aus. Ich finde, dass beides geht: Besorgt sein über die aktuelle Entwicklung, und erfreut sein über die neugewonnene freie Zeit. Absagen sind inzwischen zum beliebten Smalltalk-Thema avanciert: Hast Du schon gehört, ob das Event morgen stattfindet? Was fällt bei Dir alles aus? Man könnte Absagen-Bingo spielen. Jeder schreibt alle seine Termine auf einen Zettel und streicht bei jeder Absage einen durch. Wer als Erster gar nichts mehr vorhat, hat gewonnen.

Wie wäre es, wenn wir die Gelegenheit nutzen, statt Toilettenpapier und Nudeln auch endlich mal ein wenig Zeit zu hamstern? Mit den Kindern spielen, mit dem Partner sprechen, abends mal eine Flasche Wein aufmachen. Keine Termine und leicht einen sitzen: Für Harald Juhnke war das die Definition von Glück. Heute ist es noch dazu die sicherste Möglichkeit, sich nicht anzustecken.