Siemens

Doch, ja, am Ende wird es auch hier um raffgierige Manager, heimtückische Globalisierungspläne und die Vernichtung heimischer Arbeitsplätze gehen. Aber nicht sofort. Zunächst muss vom Handy meiner Mutter die Rede sein. Meine Mutter ist Jahrgang 1944 und wie viele Menschen ihrer Generation steht sie dem Fortschritt mit gesunder Distanz gegenüber. Dass sie überhaupt ein Mobil-telefon hat, hängt hauptsächlich mit dem Wunsch ihrer Kinder zusammen, ihre Bewegungen durch die Welt halbwegs zu verfolgen. Sie ist das, was Handyhersteller gern einen »Einsteiger« nennen. Folgerichtig benutzt sie ein schon etwas älteres, silberfarbenes Einsteigermodell namens A65, und das wurde – jetzt kommt es – von Siemens hergestellt, als Siemens noch Siemens hieß und nicht BenQ und noch keine Rede war von Insolvenz. Wenn meine Mutter ihr Handy nicht versteht, stellt sie gern Einsteigerfragen. Neulich war sie zu Besuch und behauptete, dass es unmöglich sei, Einträge aus ihrem Handy-Adressbuch zu löschen. Das haben wir gleich, sagte ich, und machte mich an ihrem Menü zu schaffen. Es war ohne Zweifel das hässlichste und umständlichste Handymenü, das ich je gesehen hatte. Alles funktionierte genau andersherum, als man spontan erwartet hätte. Und: Ich kam nicht zum Ziel. Ich konnte einzelne Zahlen löschen und einzelne Buchstaben, aber einen ganzen Eintrag? Keine Chance. Ist nicht so wichtig, sagte meine Mutter, die merkte, wie Besessenheit in mir aufstieg. Aber mein Ruf als Gadget-Guru stand auf dem Spiel. Ich lud mir die Bedienungsanleitung von der früheren Siemens- und jetzigen BenQ-Website herunter; ich konsultierte Internetforen. Die Stunden vergingen. Nichts half. Am Ende, als meine Mutter längst im Bett war, gab ich auf, legte ihre Karte in mein Nokia ein, löschte, änderte und speicherte ihre Daten innerhalb von drei Minuten – und fiel danach in einen unruhigen Traum, in dem der Technikstandort Deutschland sehr düster, karstig und menschenleer aussah. Ungefähr so wie das Land Mordor im Herrn der Ringe. Das Handy meiner Mutter, ich habe nachgeschaut, kam im Herbst 2004 auf den weltweit expandierenden Markt der Mobiltelefone. Im Sommer 2005 war Siemens vom dritten Platz der Handyhersteller bereits auf den fünften Platz zurückgefallen, der Marktanteil auf 5,5 Prozent abgesackt. Seither ging es weiter bergab. Der Zusammenhang ist – zumindest mir – nun sonnenklar. Politiker, Gewerkschaftsfunktionäre und Wirtschaftskommentatoren, die sich über den großen Niedergang noch wundern oder erregen können, haben wahrscheinlich schon lange kein Siemens-Handy mehr benutzt, und ganz sicher haben sie nie versucht, einen überflüssigen Adressbucheintrag wie beispielsweise den »Vodafone Blumengruss« aus ihrem Siemens-Handy zu löschen. Aber Moment: Kann das alles wirklich so simpel sein? Ich fürchte: ja. In der Welt der Konsumgüter liegen die Beweise schließlich für jeden auf der Hand. In diesen Wochen ist nun viel von der Verantwortung für die Mitarbeiter die Rede, von Werten wie Stabilität, Rationalität und Kontinuität, die traditionell mit dem Prinzip Siemens verbunden waren und es nun wohl nicht mehr sind. Dass diese Werte jedoch früher auch auf einem Handwerksethos beruhten, das jedem einzelnen Siemens-Mitarbeiter wichtig war; dass in der Siemenskultur keiner etwas aus der Hand gab, was nicht gut durchdacht und technisch aus-gereift war – davon spricht merkwürdigerweise niemand. Die Siemens-Topmanager in ihrer Gier und ihrer strategischen Unfähigkeit mögen an vielem schuld sein, aber die Menü-Software im Handy meiner Mutter haben sie nicht entwickelt. Wer auch immer dafür die Verantwortung trägt, wer das getestet, abgesegnet oder versucht hat, dieses Handy zu verkaufen, ohne einen internen Aufstand anzuzetteln – der muss jetzt auch der anderen Seite des Desasters ins Auge sehen: Kein Politiker, kein Gewerkschafter, kein Sozialplan kann uns auf Dauer vor den Folgen retten, wenn unsere Arbeit derart katastrophale Ergebnisse produziert.