Wo steckt das Problem? Dank der Hilfe der Verwandten ist doch allen geholfen: Sie sind froh, weil Sie die schwierige Situation überbrücken konnten, und ebenso die Verwandte, die ihrer Langeweile entkam. Die Summe des Glücks wurde vergrößert. Nach der Nützlichkeitsethik, dem Utilitarismus, der auf die Mehrung des Glücks abstellt, können Sie die Hilfe also ohne schlechtes Gewissen annehmen; ja umgekehrt, sie abzulehnen wäre unmoralisch.
Dennoch trägt diese Lösung einen schalen Beigeschmack: den des kalten Ausnutzens. Daraus resultieren vermutlich auch Ihre Gewissenszweifel. Der Ursprung des Problems besteht darin, dass Sie – bildlich gesprochen – die Bitte um Hilfe wie auch das Dankeschön widerwillig zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorpressen. Übertragen in die Terminologie der Moralphilosophie achten Sie die Dame nicht als Person, als eigenen Zweck, sondern wollen sie lediglich als Mittel zur Überwindung Ihrer eigenen Notsituation heranziehen. Damit aber verstoßen Sie gegen die Forderung Kants in der sogenannten Zweckformel seines Kategorischen Imperativs: So zu handeln, dass man »jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« gebrauche. Vor allem aber hat die Aktion etwas Verlogenes. Denn hinter dem Hilfeangebot steckt vermutlich mehr als reine Langeweile, nämlich die Suche nach Kontakt. Wären alle genauso zufrieden, wenn Sie sagen: »Du weißt, wir mögen dich eigentlich nicht, aber jetzt geht es leider nicht anders. Komm bitte, solange die Kinder krank sind, aber auch nur so lange.« Ich bezweifle, dass sie antworten würde: »Ja, ich weiß, ich kann euch auch nicht ausstehen, aber hängen lassen will ich euch trotzdem nicht. Und verglichen mit dem Nachmittagsfernsehen seid ihr halbwegs erträglich.« Aber dann wären wenigstens die Fronten klar.
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Illustration: Jens Bonnke