Die Gewissensfrage

Man kommt an Bettlern vorbei. Und würde Ihnen auch gerne etwas Kleingeld schenken. Aber: Wer ist der Bedürftigste? Oder ist es sinnvoller, niemandem etwas zu geben?

"Ich komme jeden Tag an vier bis fünf Bettlern vorbei, meistens den gleichen, die mich flehend ansehen. Ich kann aber nicht allen etwas geben, schon gar nicht jedes mal. Aber ich ertrage die enttäuschten Blicke nur schwer. Nur: Wer ist der Bedürftigste? Und wird dieser dann nicht jedes Mal etwas erwarten? Ich quäle mich damit ständig herum, mit der Folge, dass ich keinem etwas gebe. Was wäre richtig?" Martha N., Hamburg

Demjenigen direkt helfen zu wollen, der Sie gerade bittend und bedürftig ansieht, stellt eine positive und begrüßenswerte Regung dar. Nur ist diese Regung als moralischer Antrieb zwar für den Einzelfall sinnvoll, stößt jedoch an ihre Grenzen in Situationen, in denen man genau weiß, dass man unmittelbar nach diesem einen Menschen, dem man im Moment in die Augen sieht, noch etlichen anderen ebenso Bedürftigen begegnen wird.

Man kann ohnehin zweifeln, ob es aus sozialen Gesichtspunkten sinnvoll ist, auf diese Art zu helfen. Aber wenn Sie nicht jedem jeden Tag etwas geben können, müssen Sie zudem notgedrungen die spontanen moralischen Gefühle mit der Vernunft abgleichen. Ihr Ergebnis, dann niemandem etwas zu geben, ist konsequent, praktikabel und entspricht dem Grundsatz der Gleichbehandlung. Ich halte es jedoch für suboptimal. Zum einen quälen Sie sich ja dennoch mit Entscheidungsnöten herum, zum anderen ist eigentlich niemandem gedient: Sie wollen geben und tun es nicht, die Bettler wollen etwas bekommen und bekommen nichts.

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Was dann? Zum moralischen Abgleich des Handelns mit der Vernunft gibt es eine erste Adresse: Immanuel Kant. Und tatsächlich hat er sich mit Ihrem Problem beschäftigt, wie umfangreich man helfen muss. Er hat festgestellt, dass die Pflicht, anderen Wohltaten zu erweisen, eine unvollkommene ist, weil man ihr nicht in unbegrenztem Maße nachkommen kann, wie die Kant’sche Ethik es bei den vollkommenen Pflichten verlangt. »Also ist«, schreibt Kant, »diese Pflicht nur eine weite; sie hat Spielraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne dass sich die Grenzen davon bestimmt angeben lassen.« Vermutlich auch deshalb empfiehlt er in seiner Schrift zur Erziehung, man solle nicht »das Herz der Kinder weich machen, dass es von dem Schicksale des anderen affiziert werde, als vielmehr wacker«.

Ich würde das so nicht unterschreiben wollen und will auch Sie nicht erziehen, aber der Kern stimmt: Man braucht bei der Wohltätigkeit eine gewisse »wackere« Vernunft. Andernfalls läuft man Gefahr, sich zu verausgaben oder, wie Sie, alles abzublocken.

Meine Empfehlung wäre daher, entweder in Ruhe ausgewählt an eine Organisation zu spenden, die eben jener Gruppe von Bedürftigen hilft, oder/und mal dem einen und mal dem anderen zu geben – und dazu wacker zu stehen.

Quellen:
Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Einleitung zur Tugendlehre VIII. Exposition der Tugendpflichten als weiter Pflichten 2. Fremde Glückseligkeit als Zweck, der zugleich Pflicht ist. Akademie Ausgabe S. 393

Immanuel Kant, Über Pädagogik, Herausgegeben von Hermann Holstein, 4. Auflage Verlag Ferdinand Kamp, Bochum o.J., Ziffer 98 = Akademie Ausgabe Band IX, S. 490 Im Internet hier abrufbar.

Dr. Dr. Rainer Erlinger wird am 11.9. bei der SZ-Nacht der Autoren lesen. Im Rahmen der SZ-Magazin-Veranstaltung im Literaturhaus erläutert er ab 21 Uhr gemeinsam mit Johannes Waechter Streitfälle der Alltagsmoral.

Illustration: Marc Herold