»Vor Kurzem wurde ich im Auto meiner Tochter mit überhöhter Geschwindigkeit geblitzt. Ich bekam eine Vorladung zur Polizei. Beim ADAC sagte man mir, ich müsse dort ›nichts zugeben‹. Der Polizist sagte ebenfalls sofort, ich müsse ›nichts zugeben‹. Dann zeigte er mir das Foto. Es war ein schlechtes Foto, es hätte auch eine meiner Töchter gewesen sein können. Aber da hat mein schlechtes Gewissen zugeschlagen, und ich habe gestanden. Bin ich blöd?« Sandra L., Frankfurt
»Nemo tenetur se ipsum accusare – Niemand ist verpflichtet, sich selbst anzuklagen«. Diesen Grundsatz, dem sogar Verfassungsrang zugeschrieben wird, würde man aufweichen oder sogar aushebeln, wollte man statt der nicht vorhandenen rechtlichen eine moralische Pflicht formulieren, eigene Untaten zuzugeben. Zumal in diesem Fall durch Ihr Schweigen auch niemand anderer, insbesondere keine Ihrer Töchter belastet würde; da auch sie nicht zu identifizieren sind, würde das Verfahren schlicht eingestellt. Sie hätten also nichts gestehen müssen.
Allerdings beantwortet das Ihre Frage höchstens zum Teil, denn Sie fragen ja nicht, ob Sie hätten gestehen müssen, sondern ob Sie blöd waren, weil Sie gestanden haben. Das ist etwas anderes, und diese Frage beantworte ich mit einem klaren: Nein, Sie waren nicht blöd.
In Fjodor Dostojewskijs Roman Schuld und Sühne ermordet der mittellose Student Raskolnikow eine alte Wucherin und ihre Schwester, getragen von dem Plan, dadurch sein Studium finanzieren und so zu einer besseren Welt beitragen zu können. In der Neuübersetzung von Swetlana Geier trägt der Roman nun den Titel Verbrechen und Strafe, was nicht nur dem russischen Originaltitel Prestuplenie i nakazanie näher kommt, sondern auch dem Inhalt. Denn Raskolnikow gelangt im Laufe des Romans zu der Erkenntnis, dass er, nachdem ihm dank etlicher Zufälle die Tat nicht nachgewiesen werden kann und er straffrei bleiben könnte, nur über ein Geständnis und das Auf-sich-Nehmen der Strafe zur Rettung gelangt.
Nun haben Sie nicht mit der Axt zwei Frauen erschlagen, insofern sind die Parallelen dünn, aber eines zeigt der Roman doch auch für Ihren Fall: Die meisten Verbrecher dürften wesentlich glücklicher sein, wenn sie davonkommen, nicht aber Raskolnikow. Wie man nach einem Doppelmord fühlt und denkt, kann ich mir nur sehr begrenzt vorstellen, aber ich kann nachvollziehen, dass man bei einem Bußgeldverfahren nicht wegen ein paar Euro Katz und Maus spielen will. Viele werden das anders sehen, weil sie Befriedigung daraus ziehen, clever ein Schlupfloch zu finden. Doch es ist auch vollkommen gleich, ob jemand Ihr Geständnis nachvollziehen kann. Es kommt einzig und allein darauf an, was Sie besser finden. Nur dass man etwas nicht tun muss, bedeutet nicht, dass man es nicht tun darf, ohne blöd zu sein. Im Gegenteil.
Literaturhinweis:
Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, Verbrechen und Strafe. Übersetzt von Swetlana Geier. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 1996
Illustration: Marc Herold