»Vor Kurzem stand ich bei Regen und Kälte an der Haltestelle und wartete, mit vielen anderen Leuten, auf die verspätete Tram. Als sie endlich kam, drängten alle zu den Türen. Zum Schluss wollte ein Vater mit Kinderwagen einsteigen, aber der Wagen war voll. Er musste draußen bleiben und auf die nächste ebenfalls verspätete Tram warten. Hätten ich und andere Fahrgäste aussteigen müssen, um Platz für den Kinderwagen zu schaffen?« Gabi R., München
Für gewöhnlich hört man bei diesem Themenkreis sehr schnell Hinweise darauf, dass Eltern, indem sie Kinder aufziehen, einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Gern begleitet von Schlagworten wie »Wer soll denn unsere Rente zahlen?«. Und die Geschichten von Müttern, die unter unausgesprochener moralischer Berufung darauf lautstark oder gar rempelnd Platz für sich und ihren Kinderwagen einfordern, sind legendär - aber auch wahr.
Das halte ich für grundfalsch. Zwar tragen Eltern, indem sie Kinder aufziehen, tatsächlich zum gesellschaftlichen Nutzen bei, aber Kinder zu bekommen wird - einschließlich der Kinder selbst - durch diese Betrachtungsweise auf einen Nützlichkeitsaspekt reduziert. Die Kinder werden dabei in den Worten Immanuel Kants »bloß als Mittel« betrachtet und dadurch in ihrer Würde beschädigt.
Hinzu kommt, dass die Entscheidung, Kinder zu bekommen, meist eine freiwillige ist. Eltern treffen sie - hoffentlich -, weil sie Kinder wollen und nicht, um der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen. Im Grundsatz stehen deshalb Eltern mit ihren Kindern keine Vorrechte aufgrund moralischer Verdienste zu.
Dennoch bin ich der Meinung, dass es gut gewesen wäre, dem Vater mit dem Kinderwagen Platz zu machen. Auch wenn die Entscheidung, Kinder zu bekommen, eine freie ist, gehört sich fortzupflanzen zur Natur des Menschen, zum Menschsein. Mehr als andere Entscheidungen, mit denen man seine Idee vom Leben gestaltet. Damit aber würde ich den Umstand, Kinder zu haben oder nicht, auf eine Stufe stellen mit den verschiedenen Möglichkeiten, die Menschen von der Natur mitgegeben bekommen; und für die hat John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit den Grundsatz geprägt, dass die Gesellschaft die Aufgabe hat, die unterschiedlichen Chancen auszugleichen, um Ungerechtigkeiten zu vermeiden.
Bezogen auf den Vater, der mit seinem Kinderwagen geringere Chancen hat, in die Trambahn zu kommen, kann dieser Nachteil am besten ausgeglichen werden, wenn einige von denen, die den Platz in der Trambahn leichter ergattern konnten, freiwillig zurücktreten und dadurch Platz schaffen. Wie gesagt, es geht nicht um Verdienste, Vorrechte oder gar moralische Überlegenheit, sondern lediglich um einen gerechten Ausgleich der Nachteile.
Literatur:
Das Zitat von Immanuel Kant entstammt seinem Kategorischen Imperativ in der sogenannten „Selbstzweckformel" oder „Zweck-Mittel-Formel".
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe S. 429:
„Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."
Eine günstige Ausgabe ist im Reclam Verlag erschienen (dort S. 79)
Online abrufbar hier
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1979, Kapitel 2 Die Grundsätze der Gerechtigkeit, 17. Die Tendenz zur Gleichheit, S. 121ff.
Illustration: Serge Bloch