»In unserem Italienurlaub gab es direkt am Meer ein kleines, hübsches Lokal, das immer bis auf den letzten Platz besetzt war. Meine Frage: Ist es unverschämt, sich noch ein Glas Wein mehr zu bestellen und den Tag in so einem Restaurant gemächlich ausklingen zu lassen, wenn bereits etliche andere Gäste auf einen frei werdenden Tisch warten?« Manuel K., Wiesbaden
1990 veröffentlichte der amerikanische Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahneman zusammen mit zwei Kollegen eine Studie, bei der es um Kaffeebecher ging, wie man sie im Uni-Shop für sechs Dollar kaufen konnte. Einer Gruppe von Studenten gab er die Becher und fragte sie, für welchen Preis sie diese verkaufen würden. Die Studenten in der anderen Gruppe erhielten keine Becher und sollten angeben, wie viel sie für einen derartigen Becher zahlen würden. Das Ergebnis war frappierend: Im Mittel waren die Studenten ohne Becher bereit, 2,87 Dollar dafür zu bezahlen, während die, die einen Becher hatten, 7,12 Dollar dafür haben wollten. Diese wesentlich höhere Bewertung eines Gutes, das man besitzt, kann man vielerorts beobachten, die Verhaltensökonomie nennt sie »Endowment-Effekt«.
Mir will scheinen, es gibt auch so etwas wie einen »Moral-Endowment-Effekt«: Viele Menschen glauben, dass ihnen eine Position berechtigterweise zusteht, nur weil sie diese – aus welchen Gründen auch immer – gerade innehaben. Das gilt für Stellung, Möglichkeiten und Einkommen genauso wie für Fahrspuren: Lieber seine hupend verteidigen, als jemanden kurz reinzulassen. Oder eben für Sitzplätze. Versucht man, diesen Effekt auszuklammern, wird es einfacher, weil der Unterschied deutlich wird: Stellen Sie sich vor, Sie, die Sie nur noch ein Glas Wein trinken wollen, sitzen nicht, sondern stehen neben den anderen Gästen, die noch nicht gegessen haben, vor den letzten Plätzen in einem Speiselokal. Fänden Sie es richtig, auf Kosten derer, die dann gar nicht essen können, auf den Plätzen zu bestehen? Vermutlich kaum.
Sie brauchen auch nicht den Kaffee im Stehen runterzustürzen oder sich den Nachtisch einpacken zu lassen, aber einen letzten Drink kann man normalerweise genauso gut auch ein paar Meter weiter in einer Bar nehmen. Ein Absacker, »One for the road« kann auch »One on the road« sein.
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Literatur:
Daniel Kahneman, Jack L. Knetsch, Richard H. Thaler: Experimental Tests of the Endowment Effect and the Coase Theorem, The Journal of Political Economy, Vol. 98, No. 6 (Dec., 1990), S. 1325-1348.
Ziv Carmon, Dan Ariely: Focusing on the Forgone: How Value Can Appear So Different to Buyers and Sellers, Journal of Consumer Research, Vol. 27, December 2000, S. 360-370.
Illustration: Serge Bloch