Die Gewissensfrage

Dürfen Alzheimerpatienten das Vererbbarkeits-Risiko ihrer Krankheit testen lassen, ohne vorher Rücksprache mit ihren Kindern zu halten?

»Eine Freundin ließ ihren relativ jung an Alzheimer erkrankten Ehemann auf die genetische Form dieser Erkrankung untersuchen, um das Risiko für ihre erwachsenen Kinder abzuschätzen, damit diese eventuell im Vorfeld behandelt werden konnten. Der Verdacht bestätigte sich nicht. Eine Tochter war jedoch stinksauer, dass sie nicht zuvor informiert worden war. Hat sie recht?« Helmut G., Köln

Betrachtet man die emotionale Ebene, erscheint das Handeln der Mutter verständlich oder zumindest verzeihlich: Handelte sie doch in einer Belastungssituation mit einem an Demenz erkrankten Partner und in Sorge um ihre Kinder, denen das gleiche Schicksal, das ihr gerade vor Augen steht, drohen könnte.

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Dies ändert jedoch nichts daran, dass ich das Vorgehen für falsch halte. Genetische Untersuchungen beinhalten unter anderem das Problem, dass zu diesem Zeitpunkt gesunde Menschen mit der Tatsache konfrontiert werden können, in mehr oder weniger ferner Zukunft eine schwerwiegende oder sogar tödliche Krankheit zu entwickeln. Wie einschneidend diese Information für ein Leben ist, muss man nicht betonen. Deshalb wird auch ganz allgemein ein »Recht auf Nichtwissen« anerkannt: Jeder hat das Recht, selbst zu entscheiden, ob er oder sie das wissen will oder nicht. Die eine will möglichst schnell Gewissheit haben, weil sie die Unsicherheit nicht erträgt, der andere bevorzugt die Unsicherheit, weil er mit der Gewissheit des Schicksals nicht zurechtkäme. Und es ist jedes Einzelnen ureigene Entscheidung, wie er oder sie das handhaben will. Auch dann, wenn dadurch Vorbeugungs- oder Behandlungsmöglichkeiten verstreichen. Es mögen viele vernünftige Gründe für die eine oder andere Entscheidung sprechen – das Recht auf Selbstbestimmung, auf Autonomie bedeutet, seine eigenen Angelegenheiten selbst entscheiden zu können. Wenn man möchte, auch unvernünftig.

Manchmal können Konflikte auftreten, weil die Untersuchung eines Patienten je nach Erbgang der Krankheit zugleich ein Ergebnis für andere Familienmitglieder beinhaltet. Wird jedoch die Untersuchung allein im Hinblick auf die Kinder gemacht, hätten sie im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht dazu vorab befragt werden müssen.

Literatur:

Roberto Andorno, The right not to know: an autonomy based approach, J Med Ethics 2004; Vol 30:435–440, Mit einer Entgegnung und Ergänzung von Graeme Laurie, A Response to Andorno

Michael Arribas-Ayllon, The ethics of disclosing genetic diagnosis for Alzheimer’s disease: do we need a new paradigm?, British Medical Bulletin 2011; Vol 100: 7–21

Johann-Christian Põder, Martin Langanke, Pia Erdmann, Wolfgang Lieb, Heinrich Assel, Tagungsbericht, Zufallsbefunde als Problem medizinischer Diagnostik und Forschung, Rehburg-Loccum, 2.–3. Dezember 2011 Ethik Med (2012) Vol 24:249–252

Alan Fryer, Inappropriate genetic testing of children, Arch Dis Child 2000, Vol 83: 283–285

Rosamond Rhodes, Why Test Children for Adult-Onset Genetic Diseases?, The Mount Sinai Journal of Medicine 2006, Vol. 73, 609–616

P. Borry, et al., “Genetic testing and counselling. European Guidance”, European Ethical-Legal Papers N°3, Leuven, 2007. ISBN: 978 90 334 6579 6

Donna L Dickenson, Can children and young people consent to be tested for adult onset genetic disorders?, BMJ 1999, Vol 318:1063–6

President’s Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine and Biomedical and Behavioral Research, Screening and Counseling for Genetic Conditions. A Report on the Ethical, Social, and Legal Implications of Genetic Screening, Counseling, and Education Programs, February 1983, Library of Congress, card number 83-600502

Bernd-Rüdiger Kern, Unerlaubte Diagnostik – Das Recht auf Nichtwissen, in: Christian Dierks, Albrecht Wienke, Wolfram Eberbach, Jörg Schmidtke, Hans-Dieter Lippert (Hrsg.), Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht (Schriftenreihe Medizinrecht der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht), Springer Verlag, Heidelberg 2003, S. 55–69

Rainer Erlinger, Strafrechtliche Grenzen genetischer Untersuchungen, in: Christian Dierks, Albrecht Wienke, Wolfram Eberbach, Jörg Schmidtke, Hans-Dieter Lippert (Hrsg.), Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht (Schriftenreihe Medizinrecht der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht), Springer Verlag, Heidelberg 2003, S. 71–82

UNESCO
Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights
11 November 1997

B. Rights of the persons concerned
Article 5
...
(c) The right of each individual to decide whether or not to be informed of the results of genetic examination and the resulting consequences should be respected.

Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz - GenDG) vom 31. Juli 2009 (BGBl. I S. 2529, 3672), geändert durch Artikel 2 Absatz 31 u. Artikel 4 Absatz 18 des Gesetzes vom 7. August 2013 (BGBl. I S. 3154)

§ 8 Einwilligung
(1) Eine genetische Untersuchung oder Analyse darf nur vorgenommen und eine dafür erforderliche genetische Probe nur gewonnen werden, wenn die betroffene Person in die Untersuchung und die Gewinnung der dafür erforderlichen genetischen Probe ausdrücklich und schriftlich gegenüber der verantwortlichen ärztlichen Person eingewilligt hat. Die Einwilligung nach Satz 1 umfasst sowohl die Entscheidung über den Umfang der genetischen Untersuchung als auch die Entscheidung, ob und inwieweit das Untersuchungsergebnis zur Kenntnis zu geben oder zu vernichten ist.
...
(2) Die betroffene Person kann ihre Einwilligung jederzeit mit Wirkung für die Zukunft schriftlich oder mündlich gegenüber der verantwortlichen ärztlichen Person widerrufen. Erfolgt der Widerruf mündlich, ist dieser unverzüglich zu dokumentieren.
...

§ 9 Aufklärung
(1) Vor Einholung der Einwilligung hat die verantwortliche ärztliche Person die betroffene Person über Wesen, Bedeutung und Tragweite der genetischen Untersuchung aufzuklären. Der betroffenen Person ist nach der Aufklärung eine angemessene Bedenkzeit bis zur Entscheidung über die Einwilligung einzuräumen. (2) Die Aufklärung umfasst insbesondere
...
4. das Recht der betroffenen Person, die Einwilligung jederzeit zu widerrufen,
5. das Recht der betroffenen Person auf Nichtwissen einschließlich des Rechts, das Untersuchungsergebnis oder Teile davon nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern vernichten zu lassen,

§ 11 Mitteilung der Ergebnisse genetischer Untersuchungen und Analysen
...
(4) Das Ergebnis der genetischen Untersuchung darf der betroffenen Person nicht mitgeteilt werden, soweit diese Person nach § 8 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Satz 2 entschieden hat, dass das Ergebnis der genetischen Untersuchung zu vernichten ist oder diese Person nach § 8 Abs. 2 ihre Einwilligung widerrufen hat.

Illustration: Serge Bloch