»Bei einer Hochzeit saßen an unserem Tisch zwei Gäste, die offensichtlich niemanden außer dem Brautpaar kannten. Wir unterhielten uns angeregt mit Freunden und hatten einen schönen Tag, die beiden Tischnachbarn machten einen isolierten und gelangweilten Eindruck. Hätten wir die beiden fremden Tischnachbarn in unser Gespräch einbeziehen müssen?« Robert F., Hannover
Bei dieser Frage war ich ein wenig hin- und hergerissen, ob ich sie überhaupt zur Veröffentlichung auswählen soll. Die Antwort schien mir fast zu klar: Natürlich hätten Sie die fremden Tischnachbarn in Ihr Gespräch mit einbeziehen müssen. Zwei Menschen, die sonst niemanden kennen, am Tisch links liegen zu lassen, während sich der Rest gut unterhält, ist nicht mehr nur unhöflich, das ist rüde, fast rüpelhaft.Andererseits zielt das nun schon in die Richtung, warum ich die Frage dennoch ausgewählt habe. Sie wirft nämlich ein Schlaglicht auf einen interessanten Aspekt der Höflichkeit und sogar der Etikette. Sie werden es nicht oft erleben, dass ich Benimmvorschriften als Begründung für richtiges Verhalten heranziehe, hier aber lohnt ein Blick darauf. Nach klassischen Regeln würden Paare getrennt und jedem Herrn eine Tischdame zugewiesen, um deren Wohlergehen einschließlich Unterhaltung er sich zu kümmern hat. Ihr Problem könnte erst gar nicht auftreten. Daneben findet man in den entsprechenden Büchern eine ganze Reihe von anderen hier einschlägigen Vorgaben, wie etwa immer wieder den Blickkontakt zu allen am Tisch zu halten, oder welche Themen für Konversationen unter Fremden geeignet sind oder nicht.
Wenn nun diese Benimmregeln heute nicht mehr (so) verbindlich sind – was viele etwa bei der Paartrennung begrüßen dürften –, bedeutet das nicht, dass man tun und lassen kann, was man will. In gewissem Maße wird es sogar komplizierter, weil man zwar von den Regeln nicht mehr beengt wird, aber sich eben umgekehrt auch nicht mehr an ihnen festhalten kann ohne groß nachzudenken. Dennoch bleiben allgemeine Grundprinzipien, wie niemanden auszuschließen oder sich um andere zu kümmern. Und dazu gehört, möglichst alle Anwesenden in ein Gespräch einzubeziehen. Gerade auch und besonders Fremde, die sonst allein sind.
Literatur:
Benimmratgeber gibt es in großer Menge, weshalb ich ein paar Bücher nennen will, die keine klassischen Ratgeber sind, aber umso lesenswerter
Zum guten Benehmen immer wieder lesenswert ist C. Bernd Suchers klug wie amüsant geschriebenes Buch Handy, Handkuss, Höflichkeit. Das Handbuch des guten Benehmens, Knaur Verlag, München 2007
Adriano Sack, Manieren 2.0 Stil im digitalen Zeitalter, Piper Verlag, München 2007
Der Klassiker:
Adolph Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen, in verschiedenen Ausgaben erhältlich, zum Beispiel Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2008 oder mit Illustrationen von Chodowiecki und anderen herausgegeben von Gert Ueding, Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001
Und speziell auch zum Verhältnis von Höflichkeit und Moral das Kapitel
Von Krawatten, Hofleuten und Händeschütteln. Über Höflichkeit und Manieren, in: Rainer Erlinger, Moral. Wie man richtig gut lebt, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, S. 117ff.
Illustration: Serge Bloch