Leonardo da Vinci mag ordentlich gemalt und gebastelt haben, vom Fliegen hatte er keine Ahnung. »Wenn du das Fliegen einmal erlebt hast«, soll er gesagt haben, »wirst du für immer auf Erden wandeln, mit deinen Augen himmelwärts gerichtet, denn dort bist du gewesen, und dort wird es dich immer wieder hinziehen.«
Okay, auch ich war stolz, als ich vor knapp dreißig Jahren zum ersten Mal in eine Lufthansa-Maschine stieg. Ich weiß noch, wie ich unbedingt am Fenster sitzen wollte, es gibt sogar ein Beweisfoto: eine halbe Tragfläche vor viel Himmel. Auch in den Jahren danach, als Fliegen ein selbstverständlicher Teil meines Lebens wurde (»Flugzeuge im Bauch, im Blut Kerosin, kein Sturm hält sie auf, unsre Air Berlin!«), fühlte ich mich über den Wolken erwachsen, ja bedeutsam, erst recht, wenn ich in einer der vielen Lounges sitzen durfte, ein Gratis-Kokos-Ingwer-Süppchen inklusive.
Inzwischen zieht mich gar nichts mehr in den Himmel, und wenn ich meine Augen himmelwärts richte, dann um einen Wanderfalken zu bestaunen. Ich genieße Flugreisen nicht mehr, ich erdulde sie, und es ist mir ein Rätsel, wie bereitwillig, ja genussvoll ich früher die vielen kleinen Erniedrigungen in Kauf nahm, die mit dem Fliegen einhergehen: das Schlangestehen, das Begrapschtwerden, der würdelose Kampf um die Ellbogenablage, die tätowierten Waden der Malle-Urlauber, der stechende Schmerz, wenn eine Flugbegleiterin den Rollwagen gegen meine Kniescheibe lenkt, die somnambulen Stunden in Abu Dhabi oder Atlanta, zwischen den Orten, totgeschlagen in einem überteuerten Flughafen-Pub.
Es gibt Menschen, die davon überzeugt sind, dass früher alles schlechter war. Seitdem ich vom berühmten Lufthansa-Cocktail gehört habe, glaube ich nicht mehr, dass das stimmt. Man kann es sich kaum noch vorstellen, aber der Drink wurde in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ganz selbstverständlich an Bord serviert, natürlich nur in der ersten Klasse, aber immerhin, gelegentlich wurde er sogar direkt am Platz mit Sekt aufgegossen. Das Rezept war geheim – und ist es bis heute. Geschmacklich soll der Cocktail, der sich schnell zu einem kleinen Mythos entwickelte, an einen fruchtigen Orangen-Aprikosen-Likör erinnert haben, mit einem Hauch Mandel und einem leicht bitteren Abgang. Leider wurde die schöne Tradition irgendwann eingestellt, als Flugreisen günstiger und schließlich massentauglich wurden.
Als die Lufthansa die schöne Sitte im Jahr 2005 zu ihrem 50. Jubiläum wiederzubeleben versuchte, bestellten die Passagiere lieber Tomatensaft und Wasser ohne Kohlensäure, der Cocktail war nicht mehr zeitgemäß, er wirkte wie ein Relikt einer untergegangenen Epoche. Heute ist Fliegen nicht mehr exklusiv und geheimnisvoll auch nicht. Im Gegenteil. Wer einen Flug bucht, tut es oft heimlich oder mit schlechtem Gewissen, um nicht als Klimasünder abgestempelt zu werden. Es ist das Los meiner Generation: Fast alles, was früher glamourös war, ist heute peinlich, fragwürdig oder verboten. Thomas Gottschalk ist nicht mehr lustig, sondern sexistisch. Gerhard Schröder kein stolzer Sozialdemokrat, sondern Kriegstreiber. Der Lufthansa-Cocktail ist eine Erinnerung an eine Zeit, die großartig gewesen sein muss – leider auch großartig verschwenderisch, unmoralisch und ungerecht. Wer ihren Geschmack kosten will, nachträglich und aus sicherer Entfernung, kann sich eine sanft modifizierte Neuinterpretation davon auf Amazon bestellen. Kostet ungefähr so viel wie ein Billigflug nach Prag.