Einbruch der Wirklichkeit

Wie der Tod zum Leben gehört, gehört die letzte Runde zu jedem Kneipenabend. Klingt traurig – dabei ist es ein magischer Moment.

Foto: Maurizio Di Iorio

Vor 25 Jahren habe ich in Großbritannien studiert. Als ich zurück nach Deutschland kam, war ich fünf Kilo schwerer und in der Regionalzeitung, nachdem ich meinen Golf zwei Minuten lang auf der linken Spur durch mein Heimatstädtchen und schließlich frontal in den Renault eines Rentners gesteuert hatte, dessen Gesichtsausdruck mich bis heute verfolgt: die geweiteten Augen, der fassungslose Blick – wie Brad Pitt in Sieben, als er kapiert, dass in der Kiste, die ihm der Lieferdienst gerade gebracht hat, der Kopf seiner Frau liegt.

Aber was ich eigentlich erzählen wollte: dass ich erst in England die Bedeutung der »letzten Runde« so richtig verstanden habe, ­übrigens auch ihre Tragik und Sinnhaftigkeit. War man im Pub, und das war ich oft, wurde damals noch kurz vor 23 Uhr die letzte Runde eingeläutet, die Lichter gingen an und zehn Minuten später stand man mit hundert anderen Angeschickerten im Nieselregen und fragte sich wieder mal: Und jetzt?

Manche sagen: Der Orgasmus ist ein »kleiner Tod«. Ich sage: Die letzte Runde ist ein »kleiner Tod«, und zwar jedes Mal wieder, vielleicht sogar ein mittelgroßer. Kein Wirt muss sie ankündigen, es gibt keine Regel und kein Gesetz, aber viele Barkeeper und Bedienungen tun es, was nett, grausam und interessant zugleich ist. Nett, weil man schnell noch was bestellen kann. Grausam, weil der Zauber des Abends gestört wird. Interessant, weil diese Störung dazu führt, dass auf einmal Leben in die Bude kommt. Die Uhr tickt, der Countdown läuft, es bleibt nur noch wenig Zeit, um sich darüber klar zu werden, was noch mal das Ziel des Abends war: vergessen, nicht allein nach Hause gehen oder einfach nur Spaß haben. Die letzte Runde führt zu einer Intensivierung des Geschehens, die Sehnsüchte und Charaktere der darstellenden Personen treten gnadenlos zutage. Eben noch schien alles möglich, war alles im Flow, auf einmal ist da dieser Druck. Am Nebentisch wird bezahlt, der Barkeeper säubert die Espressomaschine, es fallen Sätze wie: »Eben war mein Handy doch noch da.«

Meistgelesen diese Woche:

Oft sind es die schönsten Momente des Abends, die leidenschaftlichsten, direktesten, wahrhaftigsten

Es sind diese Minuten, in denen oft entscheidende Dinge passieren, weil alle spüren: In spätestens dreißig Minuten ist der Spaß vorbei, dann braucht es einen Plan, weil es das ja wirklich noch nicht gewesen sein kann. Die einen werden lauter, die anderen leiser, manche hoffen noch, andere resignieren schon. Manche werden mutiger und sprechen den Menschen, den sie seit zwei Stunden beobachten, endlich an, andere werden panisch, wieder andere klar und effizient. Oft sind es die schönsten Momente des Abends, die leidenschaftlichsten, direktesten, wahrhaftigsten – der Einbruch der Wirklichkeit in die Illusion eines gelungenen Ausgehabends, auf die man sich vorher unabgesprochen geeinigt hat.

Je älter ich werde, desto stärker bin ich davon überzeugt, dass nicht nur in jedem Anfang, sondern auch in jedem Ende ein Zauber liegt, sogar im Tod. Und ich glaube, dass es ein großes Unglück der Menschen ist, dass sie das nicht wahrhaben, dass sie immer alles verlängern, hinauszögern und ausdehnen wollen. Dass sie nicht spüren, dass ohne Ende alles wert- und sinnlos zu werden droht. Dass der Tod zum Leben gehört. Und das Ende zum Anfang. Und zum Kneipenabend die letzte Runde. Ich glaube tatsächlich, dass eine Welt, in der alles erlaubt und möglich und uneingeschränkt verfügbar ist, der direkte Weg ins Unglück ist.