»Mein bester Freund, den ich seit über 50 Jahren kenne und jedes Jahr sehe, ist an Alzheimer erkrankt – inzwischen so schwer, dass er in einem Heim ist. Wegen der Pandemie konnte ich ihn nicht in Südfrankreich besuchen. Jetzt wäre es möglich. Aber eine gute Freundin, die vor Kurzem bei ihm war, riet mir dringend von dem Besuch ab, weil er nicht mehr der sei, den wir schätzten und liebten. Er lebe in seiner eigenen Welt. Ich solle ihn doch so in Erinnerung haben, wie ich ihn vor zwei Jahren erlebt habe. Was tun?« Hans-Henning L., Heidelberg
Ich kenne jemanden, der als kleiner Junge so sehr an seinem Wellensittich hing, dass er ihn nach dessen Tod ausstopfen ließ. Wirklich wahr. Es gelang ihm, seine Eltern dazu zu bringen, einen Präparator ausfindig zu machen, der diese Aufgabe übernahm. Ein paar Tage lang war der Wellensittich fort, dann war er wieder da. Zwar stiller als vorher, und er aß und trank auch nicht mehr, aber es war doch unverkennbar derselbe geliebte Vogel, der fortan mit seinem vertrauten hellblauen Federkleid auf einer Astgabel im Kinderzimmer saß, und alles war wieder gut.
Sie wissen, worauf ich hinauswill. Dinge verändern sich. Menschen werden älter. Sie werden alt. Manchmal werden sie krank. Alzheimer ist nicht ansteckend, und Sie sind kein kleines Kind mehr, deshalb gibt es keinen Grund, nicht auf der Stelle eine Reise nach Südfrankreich zu buchen. (Südfrankreich! Das kommt ja noch hinzu!)
Den Rat Ihrer Bekannten verstehe ich nicht. Wenn eine Freundschaft mit einer schweren Erkrankung endet, hätte man sich die 50 Jahre davor auch sparen können. Es geht bei diesem Besuch auch nicht um Ihren Freund, der, je nach Fortschreiten seiner Erkrankung, vielleicht gar nicht mehr so richtig wahrnehmen wird, dass Sie ihn besuchen (oder wer genau Sie sind) – Sie tun es für sich. Weil Sie niemand sind, den eine so brutale Diagnose wie Alzheimer davon abhalten würde, jemanden weiter zu schätzen und zu lieben, und zwar jetzt, in diesem Moment, und so, wie er eben gerade ist. Das Leben passiert. Es ist ständig im Fluss. Wir können es nicht anhalten in den Momenten, die uns am angenehmsten sind. Leider.
PS: Es kann beglückend sein, mit Demenz-erkrankten Zeit zu verbringen. Sie bringen einen ins Hier und Jetzt, verstellen sich nicht, lügen einen nicht an, und wenn Sie Geduld mitbringen und sich auf die Situation einlassen, werden Sie reich beschenkt von Ihrem Besuch fortgehen.