Ich habe einen Brieffreund namens Jörg. Er ist Däne, mit einem wundervoll glucksenden Lachen. Mein Mann lernte ihn vor Jahrzehnten bei der Arbeit kennen. Weil Jörg sein eingerostetes Deutsch mit uns üben wollte, besuchten wir ihn immer wieder in seinem holzvertäfelten Ferienhaus an der dänischen Küste, stapften in Gummistiefeln über den Strand, tranken Aquavit, redeten bis in die Nacht und aßen dabei Smørrebrød (gar nicht so einfach, weil das im Mund so krümelt und die Krümel dann beim Sprechen.. nun ja.)
Wenn wir uns nicht sehen konnten, schrieben wir Briefe und erzählten aus unserem Leben: wie unsere Kinder in der Schule zurechtkamen und dass wir in Deutschland leider keine so guten eingelegten Heringe wie in Dänemark kaufen konnten. Später erzählte Jörg, wie ihn die Pflege seiner Frau an seine Grenzen brachte. Und ich, wie mich die Pflege meines Mannes an meine Grenzen brachte. Dann starben unsere Partner und wir mussten Wörter für etwas finden, für das es keine Wörter gibt. Aber egal, wie schlecht es mir ging: Lag ein Briefumschlag mit Jörgs geschwungener Handschrift im Briefkasten, stellte ich die Einkaufstüten unausgepackt in die Küche, setzte mich in einen Sessel und verschlang seine Zeilen.
Seit zwei Jahren antwortet Jörg nicht mehr auf meine Briefe. Und wenn ich seine Telefonnummer wähle, kommt eine dänische Stimme vom Band. Ich vermute, sie sagt: »Kein Anschluss unter dieser Nummer«. Und ich vermute, das steht eigentlich für: »Ihr Freund Jörg ist gestorben.«
Ich habe ein wunderschönes Adressbuch mit Ledereinband. Aber egal, bei welchem Buchstaben ich es aufschlage, könnte ich weinen. Denn das Adressbuch zeigt mir vor allem, wie viele meiner Freunde nicht mehr leben.
Schlage ich L auf, vermisse ich die tiefe Stimme meines Bruders Ludwig.
Schlage ich H auf, vermisse ich meine Freundin Heidi, die bei jedem Anruf gurrte: »Geht’s uns gut? Uns geht’s gut.«
Und seit Kurzem vermisse ich, wenn ich J aufschlage, auch noch Jörg und die Smørrebrød-Abende.
Sie sind alle nicht mehr da. Es gibt sie nur noch als Einträge in meinem Adressbuch.
Als die ersten meiner Freunde starben, hatte ich noch keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte. Das zeigte sich auch in meinem Adressbuch. Ich strich ihre Namen im Adressbuch durch. Den Stift drückte ich dabei so fest auf das Papier, dass die Umrisse noch auf den folgenden Seiten zu sehen waren. Später malte ich kleine Kreuze neben die Namen. Und trug neue Kontakte nur noch mit Bleistift ein. Damit ich sie wieder wegradieren kann.
Meine Tochter hat mich einmal gefragt, ob sie mir ein neues Adressbuch schenken darf. Sie hat gemerkt, wie viel Kummer mir die Einträge bereiten. Aber ich will das auf keinen Fall. Aus dem gleichen Grund, aus dem ich es bereue, dass ich Kreuze gemalt und Menschen durchgestrichen habe. Und aus dem gleichen Grund, warum ich es nie übers Herz bringen würde, wirklich jemanden aus meinem Adressbuch zu radieren.
Ich möchte ihre Namen sehen, wenn ich das Buch aufschlage. Mir ein neues Adressbuch zu kaufen, würde sich anfühlen, als würde ich das Kapitel mit ihnen zuklappen wollen. Dann weine ich eben. Sie sind es alle wert.
Denn die Frage nach einem neuen Adressbuch berührt eine tiefe Angst: dass die eigene Existenz keinen Unterschied gemacht hat. Dass man in den Köpfen der Menschen ausradiert wird, wenn man stirbt. Wenn nicht gleich, dann irgendwann. Gegen diese Angst tröstet sogar die Vorstellung von handgeschriebenen Adresszeilen.
Ich hoffe, dass in manchen Kommoden auch Adressbücher liegen, in denen unter »M« meine Nummer steht. Und dass es Menschen gibt, die mich eines Tages vermissen, wenn sie zufällig über meinen Namen blättern. Weil sie gerne mit mir lachen würden. Weil ich eine gute Freundin war. Weil ich einen Unterschied gemacht habe.