Recht auf Süßigkeiten

Hat ein Sexualstraftäter Schokolade verdient, wenn er seine Strafe bereits abgesessen hat? Eine Psychiatrie-Mitarbeiterin ist sich in dieser Frage uneins mit ihren Kollegen. 

Illustration: Serge Bloch

»Ich arbeite in einer Psychiatrie. Zu meinen Aufgaben ­gehören Besorgungen für Patienten. Ein Sexualstraftäter bat um Schokolade. Als meine Kollegen davon hörten, meinten sie, er habe keine Schokolade verdient. Ich sagte, er habe seine Strafe ja bereits abgesessen. Sie fanden, so eine Straftat könne man nicht absitzen. Wie hätte ich auf der Würde jedes Menschen beharren können?« Christine S., Kassel

Wo würden denn Ihre Kollegen die Grenze ziehen? Schokolade nein, aber was ist mit Quittenmarmelade? Sagen wir Quittenmarmelade mit ganz wenig Zucker, die wahnsinnig gesund schmeckt und die man auf keinen Fall zum Vergnügen isst, sondern höchstens, weil gerade alle anderen Marmeladen alle sind. Was ist mit Wattestäbchen? Die man ja nicht mehr benutzen sollte, wie Experten einfiel, weil sie die Ohren, anders als wir immer dachten, weil es uns anders beigebracht wurde, nicht säubern, sondern das Ohrenschmalz im Gegenteil nur tiefer nach innen drücken, wo es zu unschönen Ablagerungen kommen kann. Ist also kein notwendiger Hygieneartikel, sondern schon fast so etwas wie ein Luxusprodukt. Was fürs Badezimmer. Mit Watte. Oder was, wenn die Schokolade, die Sie mitbrächten, eine mit einem Kakaoanteil von neunzig Prozent wäre, also die Sorte, die sich beim Reinbeißen in Staub verwandelt und einem dann ewig am Gaumen klebt? Der Verzehr einer solchen Schokolade ist eine Strafe, müsste also von Ihren Kollegen im Prinzip gutgeheißen werden. Was ist mit grünem Tee, Kaugummis, einem harten Ei?

Worauf ich hinauswill: Soweit ich weiß, hat dieses Land, und dazu gehört ja auch Kassel, ein funktionierendes Rechtssystem. Der Mann wurde verurteilt und hat seine Strafe abgesessen. Ihre Kollegen sind anderer Meinung: Der Mann gehöre weiter bestraft. Lassen Sie uns einen Moment annehmen, das fänden wir auch, ist Schokoladenentzug dann aber hart genug? Entschuldigen Sie, dass ich so blöd spitzfindig antworte, eigentlich ist Ihre Frage ja ganz konkret: Sie hätten auf der Würde eines jeden Menschen beharren können, indem Sie Ihren Kollegen Ihre Sicht der Dinge erklärt hätten. Was aber wahrscheinlich nichts genützt hätte, denn mit Meinungen ist es ja wie mit Hausschuhen: Wenn man sie erst einmal liebgewonnen hat, gibt man sie so schnell nicht mehr her.