»In so einer Situation kannst du nur noch improvisieren«

Als Zauberer erschafft Harold Voit Fantasiewelten für das Publikum. Für wenige Minuten auf der Bühne hat er früher monatelang penibel geübt. Aber manchmal gingen Dinge trotzdem schief. Und einmal ganz besonders.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Herr Voit, Sie sind über Jahrzehnte als Zauberkünstler aufgetreten. Mal waren Sie ein Vampir und haben Ihre Frau aus einem Sarg erscheinen lassen. Bei einem anderen Kunststück haben Sie ihr einen Kasten aufgesetzt und lange Nägel durchgehämmert. Wieso haben Zauberer eine so große Lust am Blutrünstigen?
Harold Voit (71): Es gibt ja noch viel mehr. Die »Zersägte Jungfrau« ist jedem ein Begriff. Beim »Lebenden Kugelfang« fängt der Zauberkünstler eine Pistolen- oder Gewehrkugel, die auf ihn abgefeuert wird, mit den Zähnen auf. Und andere hämmern sich einen Nagel in die Nase oder schneiden sich mit einem Skalpell eine Münze aus dem Fleisch. Man kann das beliebig weit treiben.

Aber es schlägt sich doch niemand wirklich einen Nagel in die Nase?
So eklige Effekte gibt es! Aber uns Zauberern geht es vordergründig natürlich um etwas anderes. Goethe hat das am Schönsten zusammengefasst. Der war ein großer Liebhaber der Zauberkunst und hat auch selbst herumprobiert. Seinen Enkeln hat er einen Zauberkasten geschenkt und er ging gerne zu einem damals angesagten Künstler. Dem hat er den Vers gewidmet: »Bedarf‘s noch ein Diplom besiegelt? Unmögliches hast du uns vorgespiegelt.« Damit ist eigentlich alles gesagt. Wir Zauberkünstler erschaffen eine Fantasiewelt. Wir zeigen dem Zuschauer etwas, das es in der echten Welt nicht gibt. Die Fantasiewelt kann man dann natürlich beliebig ausschmücken. Auch als Künstler ist man übrigens in dieser Welt, solange man auf der Bühne steht.

Einmal wurden Sie auf abrupte Weise aus dieser Welt gerissen.
Es gibt nichts Krasseres, was dich wieder zurückholt in die echte Welt, als den Tod. Ende der 1970er Jahre, also vor gut 40 Jahren, bin ich mit meiner Frau auf einer Revue aufgetreten. Mehrere Zauberinnen und Zauberer haben ihre Darbietungen gezeigt. Es war ein lustiger Abend für Familien mit Kindern. Mehr als hundert Zuschauer waren da. Wir sollten das Programm beschließen: Meine Frau wäre in einen Kasten geklettert, den ich dann auseinandernehme und scheinbar aus Versehen verkehrt zusammenbaue. Dann wären zuoberst die Beine gekommen, dann der Kopf, dann der Rumpf. Eine typische Bühnenillusion.

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Aber es kam nicht dazu?
Wir standen schon am Rand der Bühne hinter dem Vorhang bereit, während ein älterer Kollege – Mitte 60 muss er gewesen sein – das Ringspiel vorführte. Dabei hantiert ein Zauberer mit großen Metallringen, die sich verketten und wieder voneinander lösen. Plötzlich fiel er um und war tot. Das Publikum hat gelacht.

Die Zuschauer haben gelacht?
Ja, was sollen sie denn sonst tun? In der Pause trinken die Menschen einen Wein oder eine Cola, dann schauen sie sich eine nette Zaubershow an und rechnen damit, dass der Abend schön zu Ende geht. Sie rechnen nicht damit, dass so etwas Tragisches passiert. Das Publikum befindet sich noch in der Fantasiewelt und konnte nicht wissen: Gehört das jetzt zur Show oder nicht? Die dachten halt, das ist ein guter Gag.

Wie haben Sie reagiert?
Ich glaube, mein allererster Gedanke war: Mist, jetzt können wir nicht mehr auftreten. Das war so ein Reflex, in dem Moment war ich ja in einem anderen Modus, hochkonzentriert. Auch ich war tief drin in der Fantasiewelt. Aber dann kam mir zugute, dass ich eine Ausbildung als Sanitäter habe. Ich war geschult darin, nicht mehr zu denken, sondern nur zu handeln. Wir haben sofort den Vorhang zugemacht. Und dann kam schon ein Arzt auf die Bühne. Der war im Publikum gesessen und hatte sofort erkannt, wie ernst die Lage war. Der hat den Mann untersucht, was aber sehr schnell ging. Wahrscheinlich war‘s ein Herzinfarkt. Der Arzt kniete neben dem Mann am Boden und sagte von unten zu mir nur noch: »Exitus.«

Nun gibt es ja den Spruch »The show must go on«…
Das war völlig undenkbar. Hätten wir den Toten mal eben in die Garderobe legen sollen, damit wir noch unsere Show vorführen können? Das wäre respektlos gegenüber dem Kollegen gewesen. Und übrigens auch gegenüber dem Publikum. Das hätte auf ewig diese Erinnerung an einen Abend, der schön anfing und tragisch endete. Die Menschen hätten sich gefragt: Warum fehlt denn da einer beim Schlussapplaus? Wir hätten die Leute ja nicht anlügen können. Wir haben sofort den Conférencier auf die Bühne beordert, damit er das Publikum nach Hause schickt. »Wir können den Abend leider nicht wie geplant zu Ende führen und müssen die Veranstaltung hier beenden«, hat er gesagt. »Kommen Sie gut nach Hause.«

»Wir Zauberinnen und Zauberer standen noch lange da und haben geredet, um runterzukommen«

Wann haben Sie begriffen, was da passiert war?
Ich weiß noch, dass das Publikum ziemlich schweigsam rausgegangen ist. Normalerweise wird da aufgeregt geplaudert. Ich glaube auch, dass der ein oder andere sich geschämt hat. Nicht alle, aber ein paar haben schon begriffen, dass etwas Schlimmes passiert ist. Aber in einer solchen Ausnahmesituation kann man da niemandem einen Vorwurf machen. Wir Zauberinnen und Zauberer standen noch lange da und haben geredet, um runterzukommen. Wir haben versucht, das im Gespräch aufzufangen, aber letzten Endes ist es ja nicht zu begreifen.

Was haben Sie von dem Auftritt mitgenommen?
Man muss sich das einmal vorstellen: Als »Harry, der allerletzte Vampir« habe ich dann ein paar Jahre später meine Frau in einem Sarg erscheinen, dann schweben, dann verschwinden lassen. Dafür haben wir Monate lang geübt. Monate lang üben, für ein Kunststück, das 15 Minuten dauert! Jeder Handgriff ist wohlüberlegt, jedes Wort gewählt. Und dann passiert es dir, wie meinem Team und mir einmal, dass irgendein winziges Metallteil verschlissen ist, und meine Frau schwebt nicht aus dem Sarg, sondern nur fünfzehn Zentimeter hoch. Am Ende hast du es nie ganz selbst in der Hand. Das ist auch etwas, was ich meinen Schülerinnen und Schülern an der Zauberakademie immer sage: Du bist auf alles Mögliche vorbereitet, aber eben nicht auf alles. Und in so einer Situation kannst du nur noch improvisieren.

Sterben ist normalerweise eine private Angelegenheit. Plötzlich schauen hundert Leute zu. Fanden Sie, der Kollege ist einen würdevollen Tod gestorben?
Ich finde, das war ein absolut fantastischer Tod. Natürlich hat das seine Angehörigen geschockt, keine Frage. Und er hätte sonst auch bestimmt noch 20, 30 Jahre weitergezaubert und Zuschauer glücklich gemacht. Man weiß es nicht. Aber ohne Angst und ohne Vorahnung bei der eigenen Lieblingsbeschäftigung zu sterben…

Sie meinen, Sie könnten sich Schlimmeres vorstellen?
Ja.