Die Gewissensfrage

Darf man in einem Café seine Privatsphäre einfordern? Also Leute abweisen, die sich an den eigenen Tisch setzen wollen? Oder muss man sich der Höflichkeit wegen fügen?

»An ihrem Geburtstag wollten meine Frau und ich in einem stark frequentierten Café eine Tasse Kaffee trinken. Als wir eintraten, war noch ein Tisch frei, an den wir uns setzten. Als ein anderes Paar kam und bat, sich dazusetzen zu dürfen, wiesen wir es freundlich ab, weil wir an diesem Tag ein ungestörtes, persönliches Gespräch führen wollten. Dies führte zu großem Unverständnis, dennoch fühlten wir uns im Recht. Was meinen Sie?« Karsten B., Ulm
 

Wie eng man in Cafés und Restaurants zusammensitzen möchte, ob es möglich ist, sich an einen Tisch zu Fremden zu setzen, generell, wie viel Abstand Menschen voneinander brauchen, ohne sich bedrängt oder gar bedroht zu fühlen, ist stark kulturabhängig. Für Ihre Frage hätte man in Spanien ganz andere Ausgangsbedingungen als in arabischen Ländern, in den USA, in Frankreich, in Nordeuropa oder in Japan. Und auch in Deutschland gelten im Bierzelt andere Regeln als im Gourmetrestaurant.

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Hierzulande ist es durchaus möglich, sich in Situationen wie Ihrer mit an einen Tisch zu setzen, wenn man höflich fragt. Das genau ist nun geschehen, aber wie antworten? Obwohl ich mich, was meine Abstandswünsche zu anderen Menschen angeht, eher nordisch einordnen müsste – also lieber mehr Abstand habe –, halte ich es im Grunde für egoistisch, wenn man darauf besteht, in einem vollen Lokal an einem größeren Tisch allein zu bleiben. Das ist unfair gegenüber denjenigen, die noch Platz suchen, so aber keinen bekommen; aber auch dem Wirt gegenüber, der weniger Umsatz macht, obwohl mehr Gäste da wären.

Nun handelt es sich bei Ihnen um einen Sonderfall, und man kann verstehen, dass Sie zur Feier des Tages ungestört bleiben wollen. Vor allem, wenn Sie gerade in einem persönlichen Gespräch sind, bei dem man es nicht so gern hat, wenn fremde Menschen buchstäblich mit am Tisch sitzen und alles mitbekommen. Allerdings scheint mir das womöglich mehr ein Problem der Empfindung als der Nähe zu sein, denn die am Nachbartisch sitzen oft genauso nahe wie jemand am anderen Ende des eigenen Tisches und hören deshalb auch genauso viel.

Und damit kommt man meines Erachtens dem Kern des Problem nahe: Wenn man wirklich etwas Persönliches zu besprechen hat, bei dem niemand zuhören soll, muss man das in Privaträumen tun oder bei einem Waldspaziergang, nicht aber in einem Lokal. Und in gewissem Sinne gilt das auch für den Geburtstag: Wenn Sie den sicher in Ruhe begehen wollen, müssen Sie reservieren, am besten einen Nebenraum, mindestens aber einen passenden Tisch. Umgekehrt hätte das fragende Paar zwar Verständnis für die Situation haben können – das hätte ich auch schön gefunden –, aber eben nicht müssen: Die Öffentlichkeit ist nun einmal öffentlich.

Quellen:

Grundlegend zu den Fragen der Proxemik, des zwischenmenschlichen Abstands, ist nach wie vor:

  • Edward T. Hall, The Hidden Dimension, Garden City, New York 1966; Deutsch: Die Sprache des Raumes, Pädagogischer Verlag Schwann, Düsseldorf 1976 (die deutschsprachige Ausgabe ist leider nur mehr antiquarisch erhältlich)

Allgemein zu den unausgesprochenen kulturellen Unterschieden:

  • Edward T. Hall, The Silent Language, Garden City, New York 1959

Illustration: Marc Herold