Helfen ohne Reue

Eine Bettlerin hat die Angewohnheit, an der Supermarktkasse die Hilfsbereitschaft der anderen Kunden auszunutzen. Darf man sich darüber ärgern? 

»Vor Kurzem stand eine Bettlerin vor mir an der Kasse. Sie kramte für zwei trockene Semmeln einige Centstücke aus der Tasche, es reichte aber nicht. Die Frau tat mir leid, ich gab ihr die fehlenden 20 Cent. Später sagte die Kassiererin, die Bettlerin mache das immer so, und wenn niemand für sie bezahle, habe sie doch noch fünf Euro dabei. Ich ärgerte mich. Zu Recht?« Anna G., München

Man kann sowohl Ihren Ärger als auch Ihre Vorbehalte verstehen. Die Dame täuscht zwar nicht explizit oder lügt Sie an, indem sie sagt: »Ich habe nicht genug Geld, um die Semmeln zu bezahlen, können Sie mir bitte aushelfen!«, aber sie täuscht implizit, weil sie die Situation so gestaltet, dass dieser Eindruck entsteht. Sie manipuliert, und das ist zum einen ärgerlich, zum anderen nicht richtig.

Dennoch bin ich der Meinung, dass Sie es nicht übel nehmen sollten oder, besser noch, Verständnis aufbringen. Die Dame lebt, auch wenn sie fünf Euro in der Tasche hat, vermutlich am Rande der Gesellschaft. Das Leben dort ist nicht angenehm und nicht einfach. In finanzieller Hinsicht, aber auch in Hinsicht auf den Platz am Rande der Gesellschaft, dem teilweise oder ganz Nicht-Dazugehören. Man erkennt es vielleicht an dem Betrag, um den es geht: 20 Cent. Für Sie vermutlich eine Kleinigkeit, kaum der Rede wert, für die Dame anscheinend nicht nur der Rede, sondern sogar den Aufwand eines kleinen Schaupiels wert.

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Abgesehen von diesem Unterschied in der Bedeutung der Beträge geht es aber auch um so etwas wie die Herrschaft über das eigene Leben. Und damit um die Würde. Sie schreiben, die Dame ist Bettlerin, das heißt, sie ist dem Wohlwollen und der Willkür derer ausgesetzt, die ihr etwas geben. In diesem kleinen Schauspiel aber führt sie Regie. Es mag nur um 20 Cent gehen, dennoch ist es ein Aspekt ihres Lebens, den sie selbst bestimmt.

Mich stört jede Manipulation, auch diese, aber wenn man sich die Hintergründe bewusst macht, scheint es mir möglich, hier einen anderen Blickwinkel einzunehmen. Man könnte versuchen, die Situation umzudeuten von einer Täuschungs- und Manipulationsaktion in so etwas wie einen psychologisch kunstvollen Anstoß zu einer kleinen Gabe. Und die ist mit 20 Cent wirklich nicht groß.

Leseempfehlungen:

Die Frage, inwieweit unbewusstes Einwirken auf das Verhalten ethisch zulässig ist oder nicht, wird vor allem für das sogenannten „Nudging“ diskutiert. Der Begriff kommt vom englischen „nudge“ für Stubs oder Schubs. Darunter versteht man eine Verhaltenslenkung ohne Gebote oder Verbote oder finanzielle Anreize durch Maßnahmen, die Menschen zum Teil unbewusst bestimmte Handlungen bevorzugt ausführen lässt. Darunter fällt zum Beispiel die Positionierung von bestimmten Waren in Augenhöhe, zu denen Kunden dann öfter greifen. Umstritten ist jedoch besonders, ob die Politik zu diesem Mittel greifen darf, um Bürger zu einem bestimmten, erwünschten Verhalten zu bewegen, nachdem die britische Regierung eine eigene Abteilung dafür eingerichtet hat und auch die deutsche Bundesregierung sich von einer Arbeitsgruppe mit dem Titel „Wirksam regieren“ dazu beraten lässt.

Richard H. Thaler, Cass R. Sunstein, Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Ullstein Taschenbuch 2010

Richard Thaler: The Power of Nudges, for Good and Bad, The New York Times. 31. Oktober 2015, hier abrufbar

Luc Bovens, The Ethics of Nudge In: Till Grüne-Yanoff and S.O. Hansson (Hrsg.), Preference Change: Approaches from Philosophy, Economics and Psychology, Theory and Decision Library A, Chapter 10, Springer Berlin and New York, 2008 
hier abrufbar

Sunstein, Cass R., The Ethics of Nudging (November 20, 2014). Available at SSRN: here or here

Christian Schubert, A note on the ethics of nudges, VOX CEPR's Policy Portal, mit weiteren Nachweisen, hier abrufbar

Nichola J. Raihani, Nudge politics: efficacy and ethics, Front Psychol. 2013; 4: 972. Published online 2013 Dec 19, hier abrufbar

Arbeitsgruppe „Wirksam regieren“, Den Deutschen einen Stups geben, Robert Lepenies im Gespräch mit Liane von Billerbeck, Deutschlandradio Kultur vom 2.3.2016, hier abrufbar

Illustration: Serge Bloch