»Ich habe eine offene Beziehung und möchte ein Kind. Ist die Idee vertretbar, ein Kind in die Welt zu setzen, ohne sicher zu sein, ob es einen Vater haben wird und eventuell darunter leiden könnte?« Stephanie L., München
Zunächst muss ich Ihnen widersprechen: Auch ein Kind aus einer offenen Beziehung wird einen Vater haben. Schlimmstenfalls nur wenig Kontakt zu ihm. Ansonsten kann es sein, dass Ihre offene Beziehung Bestand hat und das Kind in einer familiären Struktur mit Ihnen und seinem Vater aufwächst. Oder aber, weil die Beziehung nicht hält, bei Ihnen und vielleicht auch dem Vater als alleinerziehende Elternteile, oder mit anderen künftigen Partnern in einer Patchworkfamilie. Genauso, wie es in etwa zwanzig Prozent aller Familien in Deutschland der Fall ist.
Den Kern der Antwort sehe ich im Problem der Nichtexistenz. Oder, wie es der Philosoph Derek Parfit nennt, dem Interesse möglicher Menschen. Was bedeutet das? Ihr Kind existiert nicht, auch nicht im Mutterleib. Es könnte vielleicht einmal existieren, ob, das überlegen Sie gerade. Derzeit ist es also ein möglicher Mensch. Und die Frage, die sich stellt, ist: Kann es im Interesse dieses möglichen Menschen sein, nie zu existieren? Denn man muss sich Folgendes bewusst machen: Die zwei Möglichkeiten, die sich Ihrem Kind bieten, sind nicht, mit oder ohne Vater aufzuwachsen. Wenn Sie keinen festen Partner haben, ist die einzige Alternative, die Ihr mögliches Kind zu dieser Situation hat, die, gar nicht geboren zu werden. Und auch wenn man darüber diskutieren kann, ob es Konstellationen gibt, in denen es besser wäre, nicht geboren zu werden, eines steht fest: Nur bei der Mutter oder in einer Patchworkfamilie aufzuwachsen gehört ganz sicher nicht zu diesen Konstellationen.
Für Sie sehe ich eher folgende Fragen: Wie ernsthaft und authentisch ist Ihr Kinderwunsch? Trägt er auch die mögliche Belastung, ein Kind allein großzuziehen? Und vor allem: Glauben Sie, Ihrem Kind eine gute Mutter sein zu können? Dass Sie Überlegungen wie hier anstellen, spricht sehr dafür.
Literatur:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Alleinerziehende in Deutschland – Lebenssituationen und Lebenswirklichkeiten von Müttern und Kindern, Monitor Familienforschung Beiträge aus Forschung, Statistik und Familienpolitik, Ausgabe 28, Stand: Juli 2012
Derek Parfit, Reasons and Persons, Oxford 1984, 351-379
Derek Parfit, Rights, Interests, and Possible People, in: S. Gorovitz et al. (Hrsg.), Moral Problems in Medicine, Engelwood Cliffs/NJ 1976, S. 369–375
Auf Deutsch ist der Text unter dem Titel „Rechte, Interessen und mögliche Menschen“ abgedruckt in dem auch sonst sehr empfehlenswerten Sammelband: Anton Leist (Hrsg.) Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1990, S. 384–394
Leider ist das Buch nur mehr antiquarisch erhältlich.
Parfit spricht vom „Problem der Nichtidentität“, weil er Fälle behandelt, ob statt eines bestimmten Kindes mit schweren Erkrankungen später ein anderes Kind ohne diese Erkrankungen zur Welt kommt, das dann eben nicht identisch mit dem früheren Kind ist. Deshalb wird das frühere Kind nicht existieren und man muss sich überlegen muss, wie es mit dessen Interessen – zusammen mit den Interessen aller anderen Beteiligten – aussieht.
Da es in der vorliegenden Frage nicht um eine Verschiebung der Schwangerschaft geht (in der Hoffnung, dass es später eine feste Beziehung gibt), sondern um die grundsätzliche Überlegung, ob man einem Kind die Situation in einer offenen Beziehung zumuten kann, halte ich hier die Bezeichnung „Problem der Nichtexistenz“ für treffender.
Roberts, M. A., "The Nonidentity Problem", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2015 Edition), Edward N. Zalta (ed.), forthcoming, online abrufbar unter: http://plato.stanford.edu/entries/nonidentity-problem/
lllustration: Serge Bloch