Geschätzte Schwiegermutter

Die Schwester unseres Lesers wird von einem ehemaligen Arbeitskollegen rund 20 Jahre älter geschätzt. Sollte er sich für diesen Lapsus noch einmal entschuldigen  oder sollten alle Beteiligten die Sache schnell vergessen?

Illustration: Serge Bloch

»Beim Winzerfest fragte ein ehemaliger Arbeitskollege meinen Schwager, ob er mit seiner Schwiegermutter gekommen sei. Tatsächlich meinte er meine Schwester, die ein paar Meter daneben stand und glaubte, sich verhört zu haben: Unsere Mutter ist Ende achtzig, sie knapp über sechzig. Der Arbeitskollege stammelte: ›Oh, ich sollte mal meine Brille tragen‹ (obwohl er eigentlich nie Brille trägt) und machte sich aus dem Staub. Ich finde, für eine Entschuldigung ist das zu wenig. Aber lässt sich so ein Lapsus überhaupt wieder reparieren – oder nur möglichst bald vergessen?« Kai S., München

Es ist sehr ritterlich von Ihnen, sich schützend vor Ihre Schwester zu stellen, ich würde dennoch um Nachsicht bitten. Fordern Sie den armen Mann nicht gleich zum Duell. Die Art seines Herausredens (stammelnd) und Verschwindens (hastig) spricht nicht für eine gezielte Beleidigung. Eher war da jemand einfach ungeschickt. Sie müssen bedenken, er ist ein Mann. Und auch wenn das natürlich ein Klischee ist, würde ich behaupten wollen, dass Männer sich oft schwer damit tun, Alter richtig zu schätzen. Es ist jedenfalls nicht ihre allergrößte Stärke. Nehmen wir, um ein prominentes Beispiel anzuführen, den Regisseur Oliver Stone. Der hat in seinem gar nicht mal guten Kinofilm Alexander (2004) Angelina Jolie als Mutter von Alexander dem Großen besetzt. Der wiederum wurde von Colin Farrell gespielt. Farrell war zur Drehzeit 28 Jahre alt. Angelina Jolie 29. Als die blühend schöne Angelina Jolie zum Casting kam, muss Oliver Stone sich also gedacht haben: Teufel auch, da kommt die perfekte Mutter für meine extrem virile Hauptfigur! Und offenbar wagte niemand, ihn auf seine Fehleinschätzung aufmerksam zu machen. So ist Angelina Jolie in diesem Film ohne irgendeine Erklärung, nicht einmal älter geschminkt, als Mutter eines Gleichaltrigen zu sehen.

Dann: Die Sache trug sich beim Winzerfest zu. Vielleicht waren Aufnahme- und Urteilsfähigkeit da bereits etwas getrübt. Und noch etwas: Sie schreiben, der Mann trage nie Brille. Das muss aber nicht bedeuten, dass er gut sieht. Vielleicht müsste er tatsächlich Brille tragen und tut es aus Gründen der Eitelkeit nicht. Falls er sich erinnert, wird ihm die ganze Sache vermutlich sehr peinlich sein. Mit Ihrer Schwester hat sie nichts zu tun. Kann sie drüberstehen. Ihm die Sache weiter nachzutragen würde bedeuten, man gäbe ihm mit seiner Fehleinschätzung insgeheim Recht.