»Seit zwei Monaten lebt eine afghanische Flüchtlingsfamilie mit drei Kindern in unserer Nachbarschaft. Unsere Gärten grenzen aneinander. Einmal in der Woche kommt die Mutter zu mir, manchmal in Begleitung ihrer Tochter, und wir machen Deutsch. Wir reden auch viel miteinander, so gut es geht. Mehrmals in der Woche bringen sie uns afghanisches Essen, was wir sehr schätzen. Nur, das Essen ist zu viel, zu oft, und einiges vertragen wir auch nicht in der Menge. Wie kann ich ihnen sagen, dass wir es nicht so oft und nicht solche Mengen haben möchten? Auf keinen Fall möchte ich sie vor den Kopf stoßen.« Anna D., Kirchberg an der Jagst
Es ist sehr süß von Ihnen, dass Sie nichts falsch machen wollen, und in diesem Sinne gut, dass Sie nachfragen. Denn es ist so, ich habe mich für Sie erkundigt: Sie sollten die Essensgeschenke Ihrer Nachbarin tatsächlich auf keinen Fall ausschlagen. Das wäre extrem unhöflich. Sultana Laraway vom Verein Afghanische Frauen in München, mit der ich gesprochen habe, sagt, Essen auszuschlagen sei für Afghanen ein »Tabu«. Essen gelte als heilig. Es gebe sogar ein Sprichwort, das sinngemäß heiße: Wenn jemand dir zu essen anbietet, nimm es an, selbst wenn es Gift ist. Das bedeutet nicht, dass Sie das Essen dann auch essen müssen. Wegwerfen ist vielleicht nicht so schön, aber vielleicht können Sie es weitergeben, oder Sie laden Ihren Freundeskreis zu sich zu einem afghanischen Essen ein. Könnte ein Stammtisch werden. Und noch etwas hat Frau Laraway über Ihren Fall gesagt, der ihr deshalb so vertraut ist, weil sie selbst, als sie vor 26 Jahren aus Afghanistan nach Deutschland kam, öfter für die Mitarbeiter der Caritas oder andere Sozialhelfer kochte, die ihr beim Einleben halfen. »Die sagten, du wohnst in einem Container, es gibt eine gemeinsame Küche, du musst nicht so viel für uns kochen. Aber wie sonst hätte ich mich bedanken können?« Sie dürfen, sagt sie, das Geschirr anschließend niemals leer zurückgeben. Mindestens etwas Schokolade sollten Sie darauflegen.
Das sind zwei Grundsätze afghanischer Höflichkeit: Essensgaben nimmt man an, und Geschirr gibt man nicht leer zurück. Sie könnten Ihrer Nachbarin aber irgendwann behutsam erklären, an welches Essen deutsche Mägen gewöhnt seien, sagt Frau Laraway. Auch sie habe erst lernen müssen, dass Käsebrote hier als Abendessen durchgehen. »Man muss dem anderen von sich erzählen. Nur so kann man sich gegenseitig kennenlernen, und darum geht es.«