Die Gewissensfrage

»Einem befreundeten Paar ist ein Unglück passiert: Er hatte eine volle Kaffeetasse auf die Sofaecke gestellt. Sie kam ins Wohnzimmer, blieb am Sofa hängen, der Kaffee ergoss sich auf den hellen Teppichboden und hinterließ einen Fleck. Er beharrt jetzt darauf, dass sie ungeschickt war; sie sagt, weil so etwas immer passieren könne, stelle man sein Getränk prinzipiell nicht auf dem Sofa ab – beide seien schuld. Um das zu beweisen, platziert sie nun absichtlich Kaffeetassen auf dem Sofa und ruft ihn dann ins Wohnzimmer. Bislang ging alles gut, aber wir, als ›Berater‹ hinzugezogen, fürchten langsam um den restlichen Teppich. Wer ist wirklich schuld?« GISELA P., LEIPZIG

Normalerweise beantworte ich ja keine Fragen, bei denen ich als Schiedsrichter auftreten, gar Schuld zuweisen soll. Moral und Ethik sollen uns helfen, besser zusammenzuleben; wechselseitige Schuldzuweisungen bewirken jedoch meist das Gegenteil. Zwar wird die Vergebung als hohe Tugend angesehen, sie kann aber eine gewisse Gönnerhaftigkeit beinhalten. Noch höher schätze ich deshalb den Verzicht auf die Feststellung der Schuld – solange er nicht zur Vertuschung eigenen Fehlverhaltens dient.Hier will ich eine Ausnahme machen: Meines Erachtens sind beide gleichermaßen verantwortlich. Und zwar nicht wegen des verschütteten Kaffees, der scheint mir relativ unbedeutend. Da hat sich ein Missgeschick ereignet. Ärgerlich, aber passiert. Der Fleck ist jetzt da und geht mit keiner Schuldzuweisung wieder raus. Man kann nur für die Zukunft daraus lernen, besser aufzupassen; beim Tassenabstellen und beim Betreten des Wohnzimmers. Den Knackpunkt sehe ich – und das trifft eben beide – in dem offensichtlich von Grund auf gestörten Verhältnis zueinander. Führen die zwei eine Beziehung oder einen Ringkampf? Er will kein Jota nachgeben und sie notfalls den Teppich (dessen Unversehrtheit der Auslöser war) gänzlich opfern, nur um zu beweisen, dass sie Recht hat. Das gemahnt ja schon fast an den Potlach. Bei dieser Form des Wettkampfs, die man in den verschiedensten alten Kulturen findet, zerstören die beiden Gegner immer mehr von ihrem Besitz, bis am Ende einer nichts mehr und damit gewonnen hat. Um überlegen zu sein, ruinieren sich beide. Wer sich derartiger archaischer Stammesriten bedient, sieht seine Partnerschaft offensichtlich als Spiel, schlimmer noch als Kräftemessen. Dann aber braucht es keinen ethischen Rat, sondern einen Scheidungsanwalt.