Warum sollte man nicht eine Vergünstigung nutzen, wenn sie einem geboten wird? Die Banken offerieren sie dem, der ein Konto eröffnet, und genau das tut Ihre Freundin. Man kann sogar die Auffassung vertreten, dass den Geldinstituten nichts Unrechtes geschieht; schließlich trifft es jemanden, der seine Kunden, statt sie mit Leistungen zu überzeugen, mit sachfremden Geschenken wie Kaffeemaschinen ködern will. Es bleibt aber etwas, in dessen Richtung Sie deuten, wenn Sie den »großen Umfang« bemäkeln. Man kann bei der moralischen Beurteilung nämlich statt auf die einzelne Handlung, deren Gebotenheit oder Folgen auch auf die Grundeinstellung des Handelnden abstellen. Das wird Tugendethik genannt und geht zurück auf Aristoteles, welcher der Auffassung war, dass ein glückliches Leben nur ein tugendhaftes sein könne. Aristoteles unterschied die verstandesmäßigen Tugenden, wie Weisheit oder Klugheit, und die ethischen Tugenden, wie Großzügigkeit oder Besonnenheit. Während man die einen durch Belehrung erwerben kann, gelingt dies bei den ethischen Tugenden nur durch Gewöhnung und Einübung über längere Zeit: »...denn eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden selig und glücklich.« Die daraus entstehenden Haltungen, nicht die einzelnen Taten, sind entscheidend; sie bilden die den Menschen charakterisierenden Eigenschaften – seinen Charakter.Dementsprechend scheint mir das Problem Ihrer Freundin eher ein Charakterfehler als das einer unrechten Tat zu sein. Denn Triebfeder ist eben die bedenkliche Haltung, Vergünstigungen auch auf Kosten des anderen jedes Mal mitzunehmen; ein unschöner Zug. Außerdem, um Aristoteles’ Grundidee aufzugreifen: Ich bezweifle ohnehin, dass man mit den Werbegeschenken der Banken auch nur ansatzweise zu einem glücklichen Leben gelangen kann.
Die Gewissensfrage
»Eine Bekannte von mir besitzt mehr als 20 verschiedene Konten: Jedes Mal, wenn irgendwo
besondere Prämien für eine Kontoeröffnung angeboten werden, eröffnet sie dort tatsächlich ein Konto – ohne dieses je zu nutzen. Für eine solche Unterschrift bekam sie zum Beispiel einmal eine Kaffeemaschine, für eine andere einen Tankgutschein. Ist es moralisch verwerflich, in so großem Umfang die Vergünstigungen auszunutzen, ohne eine ›Gegenleistung‹, also die Nutzung des Kontos, zu erbringen?« INGA L., DRESDEN