»Mich ärgert, dass die Landtagswahl in Bayern, anders als in Hessen, nicht am gleichen Tag wie die Bundestagswahl stattfindet, sondern eine Woche davor – offensichtlich aufgrund wahltaktischer Überlegungen der aktuellen Regierungspartei. Das kostet uns Steuerzahler ein Vermögen. Ist es moralisch vertretbar, die Landtagswahl zu boykottieren?« Thomas R., Nürnberg
Nichtwähler, Wahlmüdigkeit, Politikverdrossenheit, Demokratieverweigerung, die Schlagworte, die sich um dieses zunehmende Phänomen ranken, sind vielfältig - und überwiegend negativ. In gewissem Maße ist diese Bewertung verständlich, sieht man doch gleichzeitig, dass andernorts Menschen ihr Leben für Demokratie und Wahlrecht aufs Spiel setzen und leider auch verlieren.
Insofern mag es verwundern, dass ich Wahlenthaltung für legitim halte. Allerdings verwende ich absichtlich diesen Begriff Wahlenthaltung. Nicht nur, weil er neutraler klingt, sondern weil in »Enthaltung« ein aktives Element liegt: die bewusste Entscheidung, seine Stimme zu verweigern. Denn als Kehrseite der Freiheit sehe ich neben der moralischen Pflicht zu wählen, wenn es darum geht, einer gefährlichen politischen Strömung Einhalt zu gebieten, auch eine gewisse Verpflichtung, sich mit den politischen Weichenstellungen in seinem Land auseinanderzusetzen. Nur so kann Demokratie funktionieren. Eine auf dieser Auseinandersetzung basierte Entscheidung, nicht zu wählen, halte ich jedoch für Bestandteil der Wahlfreiheit. Mit einem entscheidenden Nachteil: Durch das Nichtwählen erhöhen Sie das Gewicht der abgegebenen Stimmen, Sie verteilen Ihre Stimme daher indirekt auf alle Parteien.
Ihr Verhalten scheint mir deshalb moralisch vertretbar, aber nicht sehr sinnvoll, vielmehr fast kontraproduktiv. Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie durch Ihr Fernbleiben von der Wahl, die in einer geringeren Wahlbeteiligung mündet, Ihren Protest gegen die getrennten Wahltermine für Bund und Land ausdrücken. Da die eigentliche Währung bei der Wahl am Ende Stimmanteile sind und nicht die Wahlbeteiligung, gelingt Ihnen das wesentlich effektiver, wenn Sie zur Wahl gehen und gegen die Parteien stimmen, die den – aus Ihrer Sicht falschen – Termin, aus welchen Gründen auch immer, beschlossen haben.
Literatur:
Walter Frenz: Wahlrecht – Wahlpflicht?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik,1994 Heft 3, S. 91-94
Vittorio Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, Verlag C.H. Beck, München 1997, S. 970:
„Es versteht sich, dass moralische Verantwortung für die von einem Staat verfolgte Politik in erster Linie diejenigen tragen, die die entsprechenden Entscheidungen gefällt haben bzw. nach dem geltenden Staatsrecht fällen sollten. ...; in einer Demkratie kann darüber hinaus gegebenenfalls der Vorwurf erhoben werden, dass man die ungerechte Regierung durch Wahl an die Macht gebracht bzw. auch nur unterlassen hat, gegen sie zu stimmen.“
Illustration: Serge Bloch