Die Gewissensfrage

Unser Leser selbst ist noch kinderlos, sein bester Freund aber ist bereits Vater. Darf er seinem Freund sagen, dass dessen Sohn ihm auf die Nerven geht?

»Mein bester Freund hat einen 3 1/2-jährigen Sohn. Meine Frau und ich haben keine Kinder und können daher mit Kindern nicht gut umgehen. Dürfen wir meinem Freund und seiner Frau sagen, dass uns deren Sohn auf die Nerven geht, wenn wir uns sehen? Oder ist das unter Freunden tabu, und wir müssen alles ertragen, was Kinder in diesem Alter eben so tun?« Eugen R., Ingolstadt

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Ein Ding erfüllt mein Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: Die Klugheit der Natur - zumindest im übertragenen Sinne. Die Natur hat so vieles gut eingerichtet, zum Beispiel, dass Eltern automatisch ihre Kinder lieben. Das ist sinnvoll für die Kinder, weil Kinder anstrengend sein können aber dennoch versorgt werden müssen, und auch für die Eltern, denn nur wenn die Kinder überleben, überleben auch die Gene der Eltern. Beim Menschen sind Kinder zudem lange Zeit vollkommen hilflos, ihre einzige Überlebenschance in dieser Zeit besteht darin, geliebt zu werden und Aufmerksamkeit zu erregen, so dass man sich ausreichend um sie kümmert.

Darin liegt das Problem: Kinder müssen versuchen, im Mittelpunkt zu stehen und ihre Eltern machen das Spiel mit - dank der Elternliebe und auch aus eigenem genetischen Interesse. Dieses Interesse ist bei Fremden, und seien sie noch so gute Freunde, naturgemäß geringer. Es kommt zu einem Interessenskonflikt, der auch noch dadurch gesteigert wird, dass Eltern eine geringere Begeisterung für ihre Kinder oft nur schwer nachvollziehen können. Schließlich sind sie selbst entzückt. Überdies handelt es sich um 50%ige genetische Kopien ihrer selbst, ihr eigen Fleisch und Blut.

Auch wenn der Konflikt verständlich ist und fast schon vorprogrammiert, hat derMensch einen Vorteil, den uns spätestens Kant klar gemacht hat: Er ist ein vernunftbegabtes Wesen und kann sich entsprechend verhalten. Sie, indem Sie nicht sagen, dass Ihnen das Kind auf die Nerven geht und damit Ihren Freund kränken; stattdessen besser, dass Sie einfach nicht so viel mit Kindern anfangen können. Und Ihr Freund, indem er Ihnen nicht die volle Dosis Kind zumutet, auch wenn er es selbst über alles liebt. Das jeweils zu verstehen ermöglicht die Vernunft; entsprechend zu handeln gebietet sie.

Literatur:

Das eingangs abgewandelte Zitat lautet bei Kant im Original:„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir."
(Kritik der praktischen Vernunft, Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft, Beschluß, AA SS. 288, online abrufbar hier)

Eine sehr gute und vor allem auch gut lesbare Einführung in die Soziobiologie mit den Mechanismen der Elternliebe ist: Eckart Voland, Die Natur des Menschen, Grundkurs Soziobiologie, Verlag C.H. Beck, München 2007, leider auch antiquarisch nur mehr schwer erhältlich

Einen tieferen Einblick unter anderem auch in die Fortpflanzungsstrategien und Elterninvestment mit Blick auch auf die Bevorzugung eigener Nachkommen, die gemeinschaftliche Kinderaufzucht und Adoptionen aus soziobiologischer Sicht:
Eckart Voland, Soziobiologie: Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz, Springer Spektrum, Heidelberg, 4. Auflage 2013

Die amerikanischen Comedian und Moderatorin Ellen Degeneres hat den Konflikt zwischen Eltern und Nicht-Eltern in ihrem Buch „Seriously ... I'm Kidding" sehr treffend dargestellt:

„If you're are not attentive 100 percent of the time, you will quickly learn how difficult it is to get grape juice out of the antique rug in Auntie Ellen and Auntie Portia's sunroom."

„We love children. We love to be around children after they've been fed and bathed. But we ultimately decided that we don't want children of our own. There is far too much glass in our house."
Ellen Degeneres, Seriously ... I'm Kidding, Grand Central Publishing, New York 2013

Illustration: Serge Bloch