»Wer kaputte Klamotten repariert, repariert ein kaputtes System«

75 Prozent aller weltweit produzierten Kleidungsstücke landen im Müll. Die Modedesignerin Orsola de Castro fordert deshalb ein »radikales Behalten« – und gibt Tipps, wie man kaputte Pullover oder Hosen wieder tragbar machen kann.

Modedesignerin Orsola de Castro

Foto: Tamsin Haughton

Das Problem: Jeder Mensch in Europa kauft im Durchschnitt 60 neue Kleidungsstücke im Jahr, aber ein Drittel davon ziehen wir nie an.
Die Lösung: Die »Reparatur-Revolution«, ausgerufen von Orsolo de Castro.

Die Italienerin Orsola de Castro, 54, ist eigentlich Modedesignerin. Aber inzwischen ruft sie dazu auf, alte Mode zu reparieren, statt neue Mode zu kaufen. Die Gründerin der gemeinnützigen Organisation »Fashion Revolution« und Autorin des neuen Buches Loved Clothes Last ist quasi der Gegenentwurf zu Marie Kondo: Sie plädiert dafür, Klamotten nicht wegzuwerfen, sondern sie liebevoll zu retten und zu verschönern. Es ist ja tatsächlich grotesk: In den vergangenen 15 Jahren hat sich die Kleidungsproduktion mehr als verdoppelt, und gleichzeitig tragen wir die Kleidung immer kürzer. Von den 53 Millionen Tonnen Textilien, die jedes Jahr auf der Welt produziert werden, landen 75 Prozent im Müll. Die Designerin Eileen Fisher nannte die Modeindustrie »den zweitgrößten Umweltverschmutzer nach der Ölindustrie«: wegen ausgelaugter Böden, toxischer Färbstoffe, die ins Grundwasser sickern, und Plastikpartikeln in den Weltmeeren. De Castro antwortet darauf mit einem kreativen Gegenentwurf: Transparenz und radikales Reparieren.

SZ-Magazin: Woher haben Sie das leuchtend pinkfarbene Oberteil, das Sie gerade tragen?
Orsola de Castro: Das ist ein antikes Dirndl aus einem Vintage-Shop in London. Meine Großmutter war Österreicherin; auch deshalb sammle ich traditionelle Vintage-Dirndl. Das ist inzwischen ein Trend, Marc Jacobs macht das jetzt auch, aber ich sammle sie seit 20 Jahren.

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Sie nennen die Modeindustrie eine der zerstörerischsten und menschenfeindlichsten Industrien, sind aber gleichzeitig seit Jahrzehnten eine zentrale Gestalterin der »London Fashion Week«. Wie kann jemand modebewusst und gleichzeitig umweltbewusst leben?
Uns wurde diese gefährliche Story eingebläut, dass Fast Fashion so billig gemacht ist, dass es sich nicht lohnt, sie zu reparieren. Tatsächlich ist sie aber sehr teuer: Sie kostet nicht nur Ressourcen, sondern auch Menschenleben. Wenn man für fünf Euro ein T-Shirt kauft und es bekommt einen Fleck, ist es fast einfacher und billiger es wegzuwerfen. Aber die Wahrheit ist, dass die meisten Materialien eine Ewigkeit halten, weil sie aus synthetischen Fasern hergestellt wurden, also aus Plastik. Deshalb sage ich: Richtig cool ist, wer seine Liebe zu seinen Klamotten zeigt und sie repariert. Es sollte Reparaturstationen in allen Modeläden und Supermärkten geben. Man muss kein Genie sein, um einen verrutschten Hosensaum von Zara wieder anzunähen. Das dauert etwa drei Minuten. Einige umweltbewusste Labels wie Eileen Fisher oder Patagonia sind da Vorreiter und bieten inzwischen Reparatur- oder Recyclingservices an.

Sie fordern ein »radikales Behalten« und sagen, das Reparieren von Kleidung sei ein Akt der Sabotage. Das müssen Sie erklären.
Wer kaputte Klamotten repariert, repariert ein kaputtes System. Es ist doch absurd: Wir zahlen einen Aufpreis für neue Billig-Jeans, in die extra Verschleißspuren und Löcher gestanzt wurden, aber gleichzeitig schämen wir uns, wenn ein Pullover einen Fleck hat. Das einzige Gegenmittel zur Wegwerfkultur ist das radikale Behalten. Greta Thunberg und andere Umweltaktivisten sagen offen, dass sie gar keine neue Kleidung mehr kaufen. Es gibt mir Hoffnung, dass die junge Generation ein größeres Bewusstsein dafür hat.

Orsola de Castro wuchs in Rom auf. Ihre Mutter war Künstlerin und Inhaberin einer traditionellen Drucktechnik-Schule in Venedig. De Castro bekam mit 18 Jahren das erste ihrer vier Kinder, lebt seither überwiegend in London und nutzte die Zeit, in der sie sich vor allem um ihre kleinen Kinder kümmerte, um Hüte aus recycelten Materialien herzustellen. Sie erregte zum ersten Mal 1997 internationale Aufmerksamkeit, als sie das Label »From Somewhere« gründete. Sie spezalisierte sich darauf, Strickwaren zu retten, die andere für verloren hielten. Liv Tyler und Nicole Kidman zählten zu ihren Fans. 2007 wurde De Castro eingeladen, innerhalb der London Fashion Week »Estethica« zu starten, eine ethisch produzierte Kollektion. Inzwischen konzentriert sich De Castro auf ihre Arbeit mit »Fashion Revolution«. Sie berät Designer, Modehäuser und Politiker, verantwortet Aktionen wie die Online-Kampagne #WhoMadeMyClothes, und jedes Jahr um den Jahrestag der Rana-Plaza-Tragödie im April veranstaltet sie die »Fashion Revolution Week« mit Diskussionsrunden und Modeschauen.

Sie haben einen Trend daraus gemacht, Risse und Flecke extra hervorzuheben, etwa mit Stickarbeiten und Umrandungen noch zu betonen.
Manche Leute retten streundende Hunde. Ich rette seit jeher Klamotten. Es ist wie eine Sucht: Wenn man einmal damit anfängt, kann man nicht mehr aufhören. Früher signalisierte ein geflicktes Kleidungsstück: Ich kann mir nicht leisten, ein neues zu kaufen. Heute signalisiert ein geflicktes Kleidungsstück: Wir als Bewohner dieser Erde können es uns nicht leisten, diese Ressource zu verschwenden und wegzuwerfen. Sie verschwindet nämlich nicht, sondern sie landet auf einer Müllhalde oder in einem Entwicklungsland, wo sie den einheimischen Schneidern Arbeit wegnimmt. Wir müssen nicht nur die Kleidungsstücke reparieren, sondern auch das Leben von Millionen Menschen in Ländern, die wir seit Jahrhunderten ausbeuten. Wenn Modelabel massive Profite machen, weil sie den Leuten, die die Kleidung herstellen, keinen anständigen Lohn bezahlen, dann müssen diese Kleidungsstücke wenigstens so lange wie möglich halten.

Als Antwort auf die Rana-Plaza-Katastrophe in Bangladesh, bei der 1135 Menschen in einer Textilfabrik starben, haben Sie 2013 die gemeinnützige »Fashion Revolution« mitgegründet. Was ist das genau?
Wir sind inzwischen die weltweit größte Bewegung von Modeaktivisten und in 92 Ländern präsent. Wir beraten Modefirmen, Privatleute und Politiker, fordern aber auch Transparenz, etwa dass jeder Käufer genau weiß, was in dem Kleidungsstück drin steckt, das er oder sie kauft. Wenn wir einen Joghurt kaufen, schauen wir ja auch auf die Inhaltsstoffe und das Haltbarkeitsdatum, aber bei Mode ist das schwierig, weil die Industrie nicht gezwungen wird, die Inhaltsstoffe zu deklarieren. Da kaufen Leute dann als biologisch deklarierte Baumwolle und haben keine Ahnung, mit wievielen Chemikalien sie behandelt wurde. Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Menschen ihre Kleidung genau so unter die Lupe nehmen wie das, was sie essen. Wir wollen eine Modeindustrie, die die Umwelt bewahrt und Menschen über den Profit stellt.

»Ich plädiere dafür, Kleidung nicht so oft zu waschen. Erst einmal den Geruchstest machen, um zu sehen, ob sie es wirklich nötig haben oder man vielleicht einfach den einen Fleck von Hand mit einem Schwamm wegtupfen kann«

Wie soll das klappen?
Unser Fokus liegt auf Kreativität und Bildung. Stellen Sie sich vor, alle coolen 16-Jährigen in New York, London, Delhi, Tokio, Hongkong und Beijing fangen an, ihre Kleidung zu reparieren! Gerade in Ländern wie Indien, Japan oder Myanmar gibt es uralte Traditionen, Kleidung zu erhalten, in Japan etwa die Tradition des Boro, bei der auf Denim von Hand mit sichtbaren Stichen Schichten von Textilien appliziert werden. Davon können wir lernen, statt asiatische Länder auszubeuten. Diese ganze Tradition des Wabi-Sabi, Japanisch für »die Schönheit im Riss und im Bruch entdecken«, spricht mich total an.

Sie haben gerade das Buch Loved Clothes Last veröffentlicht, übersetzt: »Geliebte Kleider halten lange«. Was ist eine der Kernaussagen des Buches?
Ich plädiere dafür, Kleidung nicht so oft zu waschen. Erst einmal den Geruchstest machen, um zu sehen, ob sie es wirklich nötig haben oder man vielleicht einfach den einen Fleck von Hand mit einem Schwamm wegtupfen kann. Und am besten vorher schon überlegen, welches Material man kauft. Ich fordere ja nicht, Polyester völlig zu verbieten, aber das reibt sich bei jedem Waschen ab und Hunderttausende Partikel Mikroplastik landen bei jedem Waschgang im Wasser. Also sollte man das Material höchstens für eine Wetterjacke kaufen, die kaum gewaschen wird, und nicht für die Unterhose.

In Ihrem Buch stecken viele praktische und kreative Ratschläge. Ich schrecke aber etwas davor zurück, Ihrem Vorschlag zu folgen, in meinem Kleiderschrank Motten zu füttern.
Das wird aber seit Generationen gemacht, ist eine ganz, ganz alte Technik! Ich füttere meine Motten wie ich meine Katzen füttere. Jeder weiß: Motten haben eine Vorliebe für bestimmte Materialien. Also geben Sie Ihnen einen alten Woll- oder Kaschmirpullover als Delikatesse und verstecken die guten Blusen.

Viele beruhigen ihr Gewissen, indem sie alte oder ungetragene Klamotten an die Wohlfahrt oder Second-Hand-Läden spenden. Warum halten Sie das für falsch?
Weil wir erst zu viel kaufen und dann zu viel weggeben. Spenden ist zudem das falsche Wort, verklappen oder entsorgen passt besser. Wenn man die Wege der Kleidung verfolgt, sieht man, dass sie den alten kolonialen Wegen folgen. Sie enden in Afrika, in Ländern, die wir ohnehin schon seit Jahrhunderten ausgebeutet haben, und dort haben die Second-Hand-Klamotten die florierenden lokalen Schneidereien total dezimiert. Da fehlen mehrere Schritte, bevor aus einer Spenden tatsächlich eine gute Gabe wird.

Sie sind eine Pionierin in der Modeindustrie, weil sie seit mehr als 20 Jahren Upcycling betreiben, und Sie haben unter anderem schon 2007 eine ethische Kollektion bei der London Fashion Week eingeführt, »Esthetica«.
Kleidung ist mein kreatives Medium. Ich will, dass die Menschen sich Gedanken darüber machen, was sie kaufen. Ich bekam vier Kinder, als ich noch sehr, sehr jung war. Also war ich viel zuhause und habe unter anderem gehäkelte Designs auf Klamotten gestickt, später habe ich eine Kollektion von Upcycling-Hüten gestaltet.

Haben Sie ein Lieblingskleidungsstück?
Das verrate ich Ihnen nicht, dazu liebe ich sie alle zu sehr. Ich bin mehrfache Großmutter, das wäre, als würde ich Ihnen sagen, wer meine Lieblingsenkel sind. Aber einige meiner elegantesten Kleidungsstücke sind inzwischen fast zu riskant zu tragen, weil sie nur noch von einigen dünnen Fäden zusammengehalten werden. Sie werden mir eines Tages mitten in einer piekfeinen Modeparty vom Leib fallen.