Im falschen Film

Zu schnell, zu sauber und absurd verklemmt: Immer wenn die Hebamme Geburten im Kino sieht, möchte sie am liebsten aus der Vorstellung rennen. Nur ein filmisches Werk fasst in ihren Augen eine Geburt perfekt zusammen.

Illustration: Cynthia Kittler

Neulich erwähnte ich in einer Folge, dass ich mir privat gerne selbstgemachte Videos von Geburten anschaue. Was ich dagegen in meiner Freizeit nicht so gerne sehe, sind professionell gemachte Videos von Geburten, sprich: Fernseh- und Kinofilme mit Szenen übers Kinderkriegen.

Ich war vor Kurzem mit meiner Cousine Manu im Kino, wir wollten eine Rom-Com sehen, so einen Chick-Flick, aber es war einfach nur Plem-Plem. Denn der Film fing, obwohl er eigentlich vom Single-Sein in der Großstadt handeln sollte (mein Thema), gleich mal mit einer Geburtsszene an, und weil das, okay, auch mein Thema ist, ärgerte ich mich mal wieder. Natürlich könnte ich das als harmlose Unterhaltung abtun, aber andererseits werden da oft Klischees und Tabus zementiert. Deswegen hier meine wichtigsten Einwände:

Geburten im Kino sind immer lustig. Kernpunkt der Komik: die Frau als Schmerz-Furie. Sie schubst den Mann weg, knockt ihn aus, schreit ihn unflätig an. Nie erlebt. Väter, die allerallermeisten, sind unglaublich fürsorglich unter der Geburt. Im »schlimmsten« Fall etwas hilflos, aber anteilnehmend und aufmerksam. Frauen erlebe ich nicht als aggressiv, sondern als dankbar für den Beistand, da ist oft so viel Liebe im Raum. SO VIEL LIEBE. Und wenn überhaupt ist die Frau am Ende etwas abwesend, aber in diesem tranceartigen Zustand dringe auch ich als Hebamme nicht durch.

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Geburten im (amerikanischen) Kino sind bizarr klemmi: Die Frau trägt ein mindestens knielanges OP-Hemd, und jeder Quadratzentimeter Haut, der dann noch zu sehen wäre, wird mit OP-Tüchern abgehängt, als handele es sich um eine Herz-Transplantation. Die Frau liegt immer auf dem Rücken, die Beine angewinkelt – eine Position, wie sie heute kaum noch praktiziert wird, weil man dabei die Schwerkraft gar nicht für sich nutzen kann. Der Arzt, ausgerüstet mit Mundschutz und OP-Haube, muss dann in einen gefühlt fünf Meter langen OP-Tuch-Tunnel kriechen, um im Dunklen nach einer Vagina zu tasten. Wie soll das gehen? Und warum soll man ein Knie oder ein bisschen haarige Scham nicht sehen dürfen? Schluss mit der Vermummung!

Wenn dann – zack! – mit nur einmal Pressen das Baby rauskommt und der mitnichten derangierten Mutter übergeben wird, hat es gerne die Größe eines dreijährigen Kleinkinds. Gut, ist mir schon klar, dass es schwierig ist, Filmszenen mit Neugeborenen zu drehen und die so einzuschmieren, dass es echt aussieht, aber wenn, dann müsste das Kind in der ersten Minute farblich eher lila-blau-rot sein und nicht quietsche-rosa. Überhaupt sind Geburten in Filmen klinisch-sauber, kein Blut, kaum Käseschmiere, da wird auch nie etwas genäht, alles blitzeblank.

Am meisten stört mich das Tempo: Geburten im Film suggerieren eine Rasanz, die so fern der Realität ist, dass ich – wie neulich – gern aus dem Kino rennen möchte: Ja, die Highlights »Blasensprung - starke Wehen - Pressphase - Baby im Arm« kommen verlässlich vor, aber das gibt eine Geburt in etwa so genau wieder wie ein 30-Sekunden-Trailer ein Zweieinhalb-Stunden-Epos. Liebe Filmemacher: Nach dem Blasensprung (der in amerikanischen Filmen grundsätzlich sturzbachartig ausfällt, in Wahrheit sind es meist nur 200 bis 300 Milliliter), muss man nicht mit quietschenden Reifen ins Krankenhaus rasen! Und in der nächsten Sekunde treten auch keine Presswehen ein. Im Gegenteil: Beginnt eine Geburt mit einem Blasensprung, hat man in aller Regel Zeit, ganz in Ruhe ein Krankenhaus aufzusuchen, aber dort kann es oft Stunden, mitunter Tage dauern, bis überhaupt Wehen eintreten. Warten, rumlaufen, warten, rumlaufen – so sieht eine Geburt die meiste Zeit aus.
Der Geburtsvorgang kann statt mit dem Blasensprung auch direkt mit Wehen losgehen. In den Filmen tun die Frauen oft einen spitzen Schrei. Tatsächlich ist der Anfang wohl eher mit anschwellenden Regelschmerzen zu vergleichen.

Solange die Wehen unregelmäßig und in größeren Abständen auftreten, spricht man von der Latenzphase. Diese Phase ist für Frauen oft die nervigste: Man hat Schmerzen, weil im Blut Wehenhormone herumschwirren, aber davon abgesehen passiert nicht viel messbares. Aber innerlich! This is where the magic happens, denn in dieser Zeit wird die Gebärmutter von »Schwangerschaft« auf »Okay, du kannst raus« umgebaut: Sie gibt ihren Auftrag, den sie seit neun Monaten sehr ernst genommen hat, nämlich das Baby unter keinen Umständen rauszulassen, auf. Das geschieht unter anderem dadurch, dass sich an ihrer Außenwand Wehenhormonrezeptoren ausbilden, die es zuvor nicht gab, weil das Baby so geschützt war. Dadurch dringen die Wehenhormone durch, die Gebärmutter gerät in Wallung. Nach und nach wird der Gebärmutterhals kürzer, der Muttermund wird weich und wandert nach vorne.

Die Latenzphase kann etliche Stunden, beim ersten Kind Tage dauern. Wenn medizinisch nichts dagegen spricht und die Frauen sich gut fühlen, schicken wir sie in dieser Zeit noch mal heim. Das finden manche frustrierend, weil auch sie gehofft haben, jetzt gehe es endlich, endlich los. Und das tut es ja auch – nur eben langsamer als im Kino.

Kommen die Wehen häufiger, meist alle drei bis vier Minuten, und öffnet sich nach und nach der Muttermund, spricht man von der eigentlichen Geburt: Von da an dauert es beim ersten Kind in der Regel nochmal 10 bis 14 Stunden. Davon umfasst die Eröffnungsphase etwa 10 bis 12 Stunden und die Austreibungsphase (doofes Wort, ich weiß) zwei bis drei Stunden, manchmal auch länger. Auf das aktive Schieben und Pressen entfällt dabei nur ein Bruchteil der Zeit.

Man muss sich eine Geburt wie eine Dampflok vorstellen, die einen ganz langen Zug ziehen muss. Die Latenzphase umfasst sämtliche Reisevorbereitungen, die Kohlen werden verladen, das Feuer angeschürt, aber der Ofen ist noch nicht annährend heiß gelaufen, die Lok bewegt sich keinen Millimeter. Bis es ganz langsam quietscht und ruckelt, dauert es ewig und kostet unglaublich viel Energie. Aber das Gute ist: Wenn das Ding erstmal Fahrt aufnimmt, ist es nicht mehr zu bremsen.

Immer wenn die Frauen sagen, »ich kann nicht mehr«, erzähl ich ihnen von dieser Szene aus Dumbo: Darin muss die kleine Lok einen langen Zug über einen absurd steilen Berg ziehen, die Gesetze der Schwerkraft wirken so unendlich stark, die Lok wird immer langsamer, aber sie keucht zuversichtlich »I think I can, I think I can« und sobald sie die steilste Stelle überwunden hat, rauscht sie den Berg hinab und schnaubt »I thought I could, I thought I could«. Auch wenn die Szene recht kurz ist (zu sehen ab Minute 3), fasst sie eine Geburt in meinen Augen wirklich am besten zusammen.