Ich kann mich gut daran erinnern, wie euphorisiert ich war, als ich zum ersten Mal dieses legendäre Schwarz-Weiß-Foto von Ernest Hemingway sah: die faltige Stirn, der weiße Vollbart und der grobmaschige Rollkragenpullover, von dem ich heute noch sicher bin, dass er nach Salz und Schweiß roch; dazu dieser Blick, zärtlich und abgründig zugleich, ein Blick, in dem Sehnsucht, Abenteuer, Liebe und Tod lagen. Was für ein Kerl muss das sein, dachte ich, der erst in der Serengeti einen Löwen totschießt, dann eine Flasche Bourbon leer trinkt und anschließend eine Kurzgeschichte in die Schreibmaschine hämmert, die so traurig und wahr ist, dass man nicht weiß, ob man sich getröstet fühlen oder erst recht verzweifeln soll. (Sie haben lange nichts mehr von Hemingway gelesen? Probieren Sie es mit der Kurzgeschichte Indian Camp, die auf drei Seiten alles enthält, was es über das Leben und den Tod zu sagen gibt.) Bis heute bin ich angezogen und abgestoßen zugleich von diesem Mann, der so viel rätselhafter und faszinierender war als die geschmeidigen Typen von heute, die einen mit ihren Grünteegeschichten langweilen.
Im Jahr 1935 erschien ein Buch mit dem Titel So Red the Nose, or Breath in the Afternoon, in dem Schriftsteller ihre Lieblingsdrinks vorstellen. Hemingway schrieb damals über einen Cocktail namens Death in the Afternoon, den er selbst erfunden und nach seinem berühmten Stierkampf-Essay aus dem Jahr 1932 benannt hat. Ja, es wird viel gestorben bei diesem Schriftsteller, der im Laufe seines Lebens mehrmals verwundet wurde sowie einige Autounfälle und Flugzeugabstürze überlebte, also permanent mit dem Tod geflirtet hat. Egal, was er unternehme, soll die Schriftstellerin Gertrude Stein gesagt haben, beständig verletze er sich, dennoch suche er immer wieder Boxkämpfe, Großwildjagden und Kriegsschauplätze auf.
Ganz sicher konnte Hemingway besser schreiben als Drinks erfinden
Der Death in the Afternoon ist auch so ein Wagnis, das einen, wenn man nicht aufpasst, in die Seile schicken oder umhauen kann. Der Drink ist so simpel wie stark, Champagner plus Absinth, mehr ist es nicht. Manche Barkeeper geben etwas Zucker oder einen Schuss Angostura dazu, was dazu führt, dass er immer noch eine Waffe, aber halt eine mit Schalldämpfer ist. Hemingway selbst schreibt, man solle 4 Zentiliter Absinth in ein Glas geben und mit eiskaltem Champagner auffüllen, damit der Drink seine »opaleszente Milchigkeit« erhalte; drei bis fünf davon könne man ruhig trinken, wenn man nichts überstürze, wenn man es gemächlich angehen lasse.
Als ich meinen ersten Death in the Afternoon probiere, ist der Nachmittag vorüber. Wenn er schmeckt, schmeckt er auch um 20 Uhr, dachte ich mir. Ich bestelle ihn in meiner Stammbar, und obwohl er gar nicht auf der Karte zu finden ist, steht ein paar Minuten später einer vor mir, weil ein ordentlicher Barkeeper natürlich weiß, wovon hier die Rede ist. Ich habe noch nicht mal genippt, da macht sich der Besitzer der Bar schon über mich lustig: Was ich Greenhorn mit diesem Hemingway-Drink vorhabe? Das Zeug schmecke wie ausgetrocknete Füße, und überhaupt solle man Champagner, wenn überhaupt, pur trinken. Egal, was man reinkippe, besser werde es niemals.
Was soll ich sagen? Man merkt, dass der Mann sich seit Jahrzehnten mit Drinks beschäftigt. Der Death in the Afternoon schmeckt interessant nach Anis und Wermut, er prickelt wie verrückt, aber irgendwie passt das alles nicht zusammen, irgendwie schmeckt er mir nicht. Vielleicht bin ich zu wenig lebensmüde. Ganz sicher aber konnte Hemingway besser schreiben als Drinks erfinden.