Der erste Elternabend stand an und wie immer stieg meine Spannung Tage zuvor. Warum eigentlich, fragte ich mich. Ich hatte doch schon etliche mitgemacht. Vermutlich, so kam ich mit Kollegin S. in den letzten uns verbleibenden Minuten im Lehrerzimmer dahinter, sind wir einfach zu sehr daran gewöhnt, die einzigen Volljährigen in den Klassenzimmern zu sein. 25 Erwachsenen gegenüber zu stehen, die einen misstrauisch beäugen, jedes Wort auf die Goldwaage legen und abgleichen mit dem, was ihr Kind zuhause von der Lehrerin erzählt hat, ist eine ganz andere Nummer. Wir schnauften tief durch und gingen zu unseren Klassenzimmern.
Ich legte den Sitzplan aus, damit die Eltern wissen würden, wo ihr Kind sitzt, lüftete und versuchte, das Chaos des Vormittags unter Kontrolle zu bringen. 19:30 Uhr. Die ersten trudelten ein. Ich zog die Tür hinter mir zu, da klopfte es von außen. Bestimmt die Eltern von Kathrin. »Entschuldigung, wir haben den Raum nicht gefunden, wir sind die Eltern von Kathrin!«. Ich grinste. Jedes Mal bin ich erstaunt, wie treffsicher sich die Eltern den Schülern zuordnen lassen. Das Verhalten ist – im positiven wie negativen Sinne – oft so ähnlich.
Ich begann, mich als die Klassenleiterin vorzustellen. Erklärte, welche Termine im Jahr noch anstanden. Es war mucksmäuschenstill. Ich hatte schon Eltern erlebt, die bereits beim Betreten der Klasse ihrem ganzen Ärger und ihren Sorgen Luft machten. Diese hier sagten gar nichts. Ich versuchte mit ein paar Sprüchen die Situation zu lockern: »Später müssten Sie noch einen Klassenelternsprecher wählen. Aber Sie sind ja alle groß, das werden Sie schon schaffen!«. Keine Reaktion. »Übrigens vorne links und rechts sitzen immer die Schlingel!« Ich zwinkerte den Eltern von Paul und Leon zu. Keine Reaktion.
Ich seufzte innerlich vor Erlösung, als es klopfte. An einem Elternabend, gehen die Fachlehrer von Zimmer zu Zimmer, um sich vorzustellen. Am liebsten wäre ich dem Kollegen H., der in dieser Klasse Latein unterrichtete, um den Hals gefallen, als er mit seinem Lausbubengesicht ins Zimmer lachte. Nun erwachten die Eltern aus ihrer Schockstarre. Sie flüsterten, spitzten ihre Stifte und holten Notizblöcke raus. »Wie viele Schulaufgaben schreiben Sie?«, fragte der Vater von Greta. Ja gut, dachte ich, manche SechstklässlerInnen haben das wirklich nicht so im Blick. Doch dann ging es weiter, Pauls Mutter fragte: »Welche weiteren Bücher können wir uns zusätzlich anschaffen?«. Hatte sie wir gesagt? Hui, diese Eltern hatten mit ihren Kindern noch einiges vor.
»Lukas bekommt Lateinnachhilfe. Das erste Lernjahr ist ja besonders wichtig für den Einstieg in die neue Sprache. Können Sie ihm bitte extra Aufgaben austeilen, die er zuhause bearbeiten kann?« Herr H. begann zu schwitzen, auch er erkannte, dass das hier kein Spaß werden würde. Er erzählte von seinem ersten Jahr in Latein, als er selbst Schüler war, und von seiner ersten Fünf, er versuchte verzweifelt, etwas vom Druck, den die Eltern empfanden, zu nehmen und die Umstellung auf diese abstrakte Sprache Latein etwas zu normalisieren. Gut durchgegrillt machte er schließlich Platz für den nächsten Fachlehrer, Herrn R., der Englisch gibt.
Dazwischen tauschten die Eltern – auf Vorschlag von Pauls Mutter – Nummern aus. Sie wollten eine Whatsappgruppe gründen, »um sich künftig bezüglich der Hausaufgaben austauschen zu können«. Ich beobachtete die Szene und schüttelte innerlich den Kopf: Die Hausaufgaben sollen die Kinder machen und nicht in Whatsappgruppen der Eltern besprochen werden! Herr R. räusperte sich: »Die Sechste wird ein schwieriges Lernjahr für die Klasse. Wir müssen einiges aufholen, und ich werde etwas aufs Tempo drücken müssen. Es könnte sein, dass Sie manchmal zu Hause nacharbeiten müssen.« Wäre ich Mutter, hätte ich an genau dieser Stelle den Kopf auf den Tisch geknallt und keine Lust mehr gehabt. Doch diese Eltern klopften zustimmend auf die Tische. Bravo, da zog jemand die Zügel an – mit so einem Lehrer gerät das Kind sicher nicht ins Hintertreffen.
Sicherlich gab es die Ehrgeiz- und Eliten-Eltern-Fraktion schon immer, dachte ich mir, während nun Herr R. gelöchert wurde. Aber an diesem Abend trat sie geballt auf. Das G8 könnte eine Erklärung sein: Weniger Zeit, gleicher Stoff – das mussten vor einigen Jahren dann auch die Eltern mit auffangen. Mein Eindruck ist, dass mit dem G8 diese neue Art Eltern geboren wurde: die, die ständig die Hausaufgaben machte, die Bildchen für Referate ausschnitt und auf Plakate klebte und meine Aufsätze mitkorrigierte, falls ich mal einen Rechtschreibfehler übersehen haben sollte.
Nun war diese Klasse aber seit kurzem wieder im neunstufigen Gymnasium. Alles wieder anders. Neuer kompetenzorientierter Lehrplan, andere Bücher, mehr Zeit. Aber die Eltern sind gleich geblieben. Wie Satelliten umkreisen sie ihre Kinderplaneten. Schirmen ab und greifen ein.
Vielleicht kommt die Dauerbeobachtung und akribische Förderung aber auch daher, dass man das Gefühl hat, eben keine Kontrolle zu haben. Weil man selber so gestresst ist von Doppel-Berufstätigkeit und womöglich einem zweiten und dritten Kind. Es muss halt alles störungsfrei laufen. Und dafür hat der Lehrer Sorge zu tragen. Die Verantwortung, dass das eigene Kind vorankommt, wird allein an die Schule ausgelagert, die man bei Misserfolg natürlich haftbar machen kann.
Es wurde verdächtig still. Alle starrten mich an. Offensichtlich hatte ich etwas nicht mitbekommen. Herr R. sprang ein: »Frau W., es kam gerade die Frage auf, wie denn der erste Jahrgangsstufentest in Deutsch ausgefallen sei?« – »Oh!, meinte ich »Sehr gut! Ich traue Ihren Kindern eine Menge zu. Und trotzdem bin ich der Meinung, dass sie in der Sechsten auch immer noch Kinder sein dürfen. Spielen und Langweilen gehören am Nachmittag auch mal dazu! Sechs bis acht Stunden Unterricht und dann zuhause noch drei Stunden für Lernen und Hausaufgaben finde ich zu viel.« Jetzt endlich hörte ich ein paar Eltern kichern und zustimmendes Geflüster. Offensichtlich waren nicht alle Eltern auf der Umlaufbahn ihrer Kinder hängen geblieben.